Oje, diese Wut! Oder: Mehr Mut zur Wut

by Worteweberin Annika

Bücher WutDie Gefühle spru­deln über, der Kra­gen platzt und – peng! Da ist die Wut. Wir alle ken­nen sie und doch kön­nen nicht nur Kin­der oft schwer mit ihr umge­hen. Worte­we­be­rin Annika hat sich ein Sach­buch, ein tol­les und ein weni­ger gutes Bil­der­buch zum Thema angesehen.

Mit­ten in der Nacht trete ich auf eine Mur­mel, obwohl ich am Abend darum gebe­ten hatte, dass die Mur­meln auf­ge­räumt wer­den – peng! Meine Mama sagt, ich darf nicht noch ein Kau­bon­bon essen – peng! Die Stra­ßen­bahn macht mir die Tür vor der Nase zu – peng! Es gibt viele Gründe, um wütend zu wer­den. Das gilt für Erwach­sene genauso wie für Kin­der. Wäh­rend Kin­der ihre Wut noch nicht kon­trol­lie­ren – man spricht auch von regu­lie­ren – kön­nen, haben wir Erwach­se­nen Stra­te­gien ent­wi­ckelt, die manch­mal funk­tio­nie­ren – und manch­mal viel­leicht auch nicht.

Wut tut gut

„Das macht mich immer so wütend, und das will ich doch gar nicht, das ist doch falsch!“, sagte letz­tens jemand zu mir. Ich stutzte. Bevor ich mich näher mit dem Thema Wut und Emo­tio­nen beschäf­tigt hatte, hätte ich den Satz wahr­schein­lich unter­schrie­ben. Ist Wut nicht total blöd? Warum Wut ihre Berech­ti­gung hat und wie man acht­sam mit ihr umge­hen kann, erzählt Kath­rin Hoh­mann im Sach­buch „Gemein­sam durch die Wut“. Darin erklärt sie:

„Wir dür­fen uns trauen, jedes Gefühl in sei­ner Form anzu­er­ken­nen und da sein zu las­sen. Bei uns selbst, wie bei ande­ren auch.“ („Gemein­sam durch die Wut“, S. 23)

Wut ist ein Indi­ka­tor für Bedürf­nisse, die oft unter der Ober­flä­che lie­gen. Die Spitze des Eis­bergs sozu­sa­gen. Wenn mal wie­der der Kra­gen platzt, lohnt es sich also, genau hin­zu­schauen, woher die Gefühle kom­men. Wahr­schein­lich geht es nicht immer nur um die Mur­meln, die Kau­bon­bons oder die Stra­ßen­bahn. Kin­der brau­chen dafür Unter­stüt­zung von Erwach­se­nen, die sie beglei­ten. Wütet das Kind, weil es eigent­lich kuscheln will und das Bedürf­nis gerade nicht for­mu­lie­ren kann? Viel­leicht kön­nen wir aus dem Ärger sogar Ener­gie zie­hen, um die Situa­tion zu ver­bes­sern? Wut muss nicht schlecht sein, im Gegen­teil: Sie kann uns sogar guttun.

Ist stampfen falsch?

Ande­ren weh­zu­tun, weil wir gerade Rot sehen, ist natür­lich keine Lösung. Aber gerade bei Kin­dern geht Wut oft mit Aggres­sion ein­her. Ist hauen falsch? Und stamp­fen? Kin­der müs­sen die Selbst­re­gu­la­ti­ons­fä­hig­keit erst trai­nie­ren, was viele Jahre dau­ert. Ihre Aggres­sion zeigt ihre Not­si­tua­tion und for­dert Erwach­sene auf, ihnen zu hel­fen. Sie zu ver­ur­tei­len, hilft ihnen natür­lich nicht.

Das ist für mich der Knack­punkt an Bil­der­buch Num­mer eins, „Der Stamp­f­o­sau­rus“ von Rachel Bright. Hier ler­nen wir einen klei­nen Dino ken­nen, der mäch­tig wütend wird. Sein klei­ner Bru­der wirft ihm ein Kis­sen an den Kopf – peng! Die Mut­ter hat das fal­sche Früh­stück zube­rei­tet – peng! Er stößt sich den Fuß – peng! Stampfo platzt der Kra­gen, er brüllt und stampft und erschreckt dadurch seine Freunde. Dann taucht ein Flat­to­sau­rus auf und hat einen guten Rat. Er lehrt den wüten­den Stampfo, tief durchzuatmen.

„Dann hol tief Luft, und atme aus …
mach einen Schritt zurück.
Betrachte nun mit neuem Blick,
was dich zutiefst bedrückt.“

Soweit, so gut. Aller­dings hatte Stampfo auch davor einen zwar nicht per­fek­ten, aber mei­ner Mei­nung nach alters­ge­rech­ten und gesell­schafts­kon­for­men Umgang mit Wut gefun­den: Er stampfte und brüllte. Die Wut musste raus.

Stampfo und das Burnout

Klar, durch­at­men ist eine super Mög­lich­keit, um Wut zu regu­lie­ren. Der Stamp­f­o­sau­rus lernt aber auch, seine Gefühle zu unter­drü­cken. Er denkt näm­lich nach dem Rat des Flat­to­sau­rus, er hätte ein­fach mit sei­nem Bru­der spie­len und lachen müs­sen, auch wenn er sich in dem Moment nicht danach gefühlt hatte. Ist das so eine gute Idee? Aus unter­drück­ten Gefüh­len wer­den ange­staute Emo­tio­nen und die wol­len irgend­wann raus. Viel­leicht in einer Woche, wenn der kleine Bru­der wie­der Quatsch macht, viel­leicht in 20 Jah­ren, wenn Stampfo mit einem Burn­out zu kämp­fen hat oder sich nicht traut, ernst­hafte Bezie­hun­gen mit ande­ren Dinos einzugehen.

„Aus Sorge vor Gewalt wer­den Aggres­sio­nen und Wut­an­fälle ver­bo­ten und tabui­siert. Dies kann zur Folge haben, dass ein Mensch gewalt­tä­tig wird oder selbst­de­struk­tiv, sich also selbst abwer­tet, ablehnt oder ver­ur­teilt für das, was er fühlt.“ („Gemein­sam durch die Wut“, S. 33)

Statt­des­sen sollte Stampfo sich nach dem Durch­at­men doch viel­leicht lie­ber fra­gen, woher seine Wut kommt. Braucht er mor­gens mehr Ruhe und Nähe? Kann er sei­ner Fami­lie erklä­ren, was ihm hel­fen würde? Die Situa­tion und damit die Bedürf­nisse weg­zu­at­men, ist lang­fris­tig zwar nett für die ande­ren Dinos, tut Stampfo aber kei­nen Gefal­len. Vor allem, dass Stamp­fos Umgang mit der Wut pro­ble­ma­ti­siert wird, finde ich in die­sem Bil­der­buch kritisch:

„Er wusste, dass es falsch war,
doch half ihm bloß noch schrei’n.“

Auch wenn die klei­nen Dinos in den Illus­tra­tio­nen von Chris Chat­ter­ton nett anzu­se­hen und Kin­der­ma­gnete sind, ist die­ses Buch bei uns (übri­gens auch bei mei­nem „Wut­zwerg“) durchgefallen.

Himbeerbrausenfreude und Eis-Wut

Im Bil­der­buch „Oje, mein Eis“ sor­gen ein her­un­ter­ge­fal­le­nes Eis – wohl­ge­merkt das welt­al­ler­beste Eis über­haupt – und über­spru­delnde Him­beer­brause für große Wut. Kasi­mir unter­nimmt in der Geschichte von Jana Hei­ni­cke einen Aus­flug mit sei­nem „Honi­gopi“. Der Junge ist sich sicher, dass heute ein ganz beson­de­rer Tag wird, immer­hin fühlt er die spru­delnde Him­beer­brau­sen­freude im gan­zen Körper.

Er darf sich ein Eis nach sei­nen Wün­schen aus­su­chen, doch es fällt wäh­rend der Damp­fer­fahrt ins Was­ser und weder der Ret­tungs­schwim­mer noch die Hub­schrau­ber­pi­lo­tin machen Anstal­ten, es zu ret­ten. Was Kasi­mir aber beson­ders wütend macht, ist die Reak­tion sei­nes Opas: Als die­ser fragt, ob Kasi­mir viel­leicht statt­des­sen ein­fach einen Kuchen oder ein Fal­a­fel möchte, fühlt Kasi­mir sich unverstanden.

„Kein Mensch will irgend­ein neues Eis, wenn das welt­al­ler­beste Eis gerade den Bach hinuntergeht.“

Wut gehört dazu

An diese Situa­tion kön­nen sowohl Kin­der als auch Erwach­sene anknüp­fen – wie oft habe ich selbst nicht auch schon reagiert wie der Opa. Kasi­mirs Gedan­ken in der Situa­tion hal­ten damit auch Vorleser*innen einen Spie­gel vor. Schließ­lich fin­det der Groß­va­ter einen bes­se­ren Weg, um mit Kasi­mirs Wut umzu­ge­hen, und beglei­tet seine Gefühle lie­be­voll. Darin kann sich kurz dar­auf auch das Kind üben, als der Opa selbst in Wut gerät. „Oje, mein Eis“ zeigt, dass alle Men­schen Gefühle haben und es nicht immer leicht ist, mit ihnen umzu­ge­hen. Die Wut wird hier nicht ver­teu­felt und die wich­tige Bot­schaft noch dazu in eine lus­tige Geschichte „geschmug­gelt“, die wir immer wie­der lesen können.

„Oje, mein Eis“ ist ein Bil­der­buch, das zeigt, dass Freude, aber auch Wut zum All­tag dazu­ge­hö­ren und dass liebe Worte und eine Umar­mung Wun­der wir­ken. Hier muss nichts weg­ge­at­met wer­den, denn über ein her­un­ter­ge­fal­le­nes Eis darf man sich schon ein­mal ärgern. Das Bil­der­buch ist bei uns bin­nen kür­zes­ter Zeit zum Favo­ri­ten avan­ciert. Das liegt an der super Geschichte und auch an den Illus­tra­tio­nen von Nini Alaska, die eine tolle, kli­schee­freie Som­mer­at­mo­sphäre (inklu­sive einer heiß gelieb­ten Schwar­zen Meer­jung­frau) aufs Papier zaubert.

Gemein­sam durch die Wut. Wie ein acht­sa­mer Umgang mit kind­li­chen Aggres­sio­nen die Bezie­hung stärkt. Kath­rin Hoh­mann. Edi­tion Claus. 2021.

Der Stamp­f­o­sau­rus. Rachel Bright. Illus­tra­tion: Chris Chat­ter­ton. Aus dem Eng­li­schen von Pia Jün­gert. Magel­lan. 2022. Ab 3 Jahren.

Oje, mein Eis. Jana Hei­ni­cke. Illus­tra­tion: Nini Alaska. Magel­lan. 2022. BK-Alters­emp­feh­lung: Ab 2,5 Jahren.

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