Och, Kalle!

von | 19.12.2020 | #litadvent, Kreativlabor, Specials

Ich saß trotz dezemberlicher Temperaturen am Springbrunnen vor dem Würzburger Bahnhof und schaute auf meine abgetragenen Springerstiefel. Eine Schönheit waren sie nicht gerade. Irgendwie kontrastierten die neongrünen Schnürsenkel mit meinen pink-weiß-schwarz-karierten Leggins. Wenigstens hatte ich alle Farbtöne wiederkehrend in meinen Haaren.
„Werd mal erwachsen, Olpi“, hatte meine beste Freundin Tini, eine Jurastudentin, vor einer Weile gesagt. Natürlich in Hörweite meiner Eltern.
Pffff. Ich war doch erst zweiundzwanzig, Kindergeld gibt es bis fünfundzwanzig, also was wollten die eigentlich?
Kalle kam angelaufen – besser angeschwankt. Er war schon relativ alt, aber seine 90 Kilo Körpergewicht trübten den Blick der meisten. „Willst‘n Bier?“ Da die Dose schon offen war, die er mir hinhielt, schüttete er es eher über mich, als es mir zu reichen.
„Kalle, pass doch auf! Du bist schon wieder angetrunken. Dabei ist noch nich‘ mal Heiligabend.“
„Heiligabend?“ Er bekam einen Lachanfall und hustete dabei.
Umständlich setzte er sich neben mich. „Wie jedes Jahr werde ich bei meiner Frau auf dem Friedhof hocken und mich danach ärgern, dass ich am Morgen danach doch wieder neben dem Grab aufwache.“
„Och, Kalle!“ Er schaffte es jedes Mal, dass ich traurig wurde. Oder sauer. Oder wütend. Oder alles gleichzeitig. Ich überlegte, ob ich mir diese Gefühle in ein neues Tattoo hineinstechen lassen sollte. Ein sich aufbäumender asiatischer Drache. Und Feuer!
Kalle riss mich aus meinen abschweifenden Gedanken. „Was hast du gegen den Friedhof, Olpi? Da sind wenigstens keine Leute an diesem Tag. Also auch keine Ansteckungsgefahr.“ Er grinste sein Kalle-Grinsen, bei dem zwei Zähne fehlten. Wenigstens in dem Punkt musste ich ihm wohl oder übel zustimmen.
Er klopfte mir derb auf die Schulter. „Machsten am Vierundzwanzigsten?“
„Weiß nicht.“
„Hast doch ‘ne Familie, das is was anneres. Meine is-“
„Auf dem Friedhof, ich weiß.“ Hitze strömte in meinen Kopf.
Ich wusste beim besten Willen nicht, wieso mich das Thema so aufregte. Ich nahm einen Schluck vom Bier. Wenigstens war die Plörre durch die Jahreszeit angenehm kühl.
„Weißt du, die Familie labert nur Zeug, was ich nicht hören will, und Tini, ach, sie ist so eine versnobte Studentin geworden.“
„Aber sie lässt es nich‘ raushäng‘. Und ich hätte gern jemand‘, der Zeug labert.“ Das Wort Zeug betonte er unnatürlich stark, so als wäre er auf einmal wütend.
„Das will doch aber keiner hören.“ Versteh einer diese Menschen.
„Du vielleicht nich. Aber sie machen es ja nich, weil‘se dich ärgern woll‘n. Se ham Angst um dir.“
Immer, wenn Kalle einen zu viel getrunken hatte, kam sein falsches Berlinerisch durch. Dabei wohnte er schon viele Jahre hier in Unterfranken. Auf einem Grünstreifen.
„Hmmm.“ Ach, Kalle, ey. Das machte mich schon wieder unnötig sentimental. „Willste meine Familie haben?“
Der Tattoo-Drache vor meinem inneren Auge fauchte.
„Nee, Olpi, der Zug ist raus. Ich sterbe dieses Jahr auf dem Friedhof. Möge es kalt werden in dieser Nacht.“ Dabei warf er einen hoffnungsvollen Blick gen Himmel.
Okay, das reichte. Ich stand auf. „Muss was erledigen, wir sehn uns.“
„Klar, sind ja noch ein paar Tage bis zu meinem Ableben.“ Er winkte wie die Queen und warf mir Küsschen zu.
„Das ist nicht lustig, Kalle.“

Drei Tage noch bis Heiligabend. Ich saß in meinem Zimmer im Sozialbunker, in dem meine Eltern ihre Wohnung hatten – obwohl sie beide arbeiteten – und dachte mit Blick auf die Stadt nach. Es war kalt geworden. Ich fragte mich, was Kalle machte. Seit zwei Tagen hatte ich mein Zimmer nur noch zum Pinkeln und für den Kühlschrank verlassen. Warum? Nun, das Tattoo-Studio hatte mich endgültig verstimmt. Eigenes Design in einer bestimmten Größe, mehrere hundert Öcken. Hätte ich mir denken können. Dieses Mal hat sich Piksi auch nicht herunterhandeln lassen. Konnte ihm ja schlecht meinen Hintern anbieten. Verdammt.
Tinis Stimme „Du musst aus diesem Milieu raus“ vermischte sich in mir mit dem Zerreißgeräusch, das Drachenkrallen verursachen, wenn sie etwas zerfetzen. Es wird dich nicht geben, lass mich in Ruhe, herrschte ich den Drachen innerlich an.
Dann guckte er wie der Hund meiner Ex. Die hatte mir gerade noch gefehlt. Raus aus meinen Gedanken, beide! Ich nahm meine Kopfhörer und blies mir die Poison Girls auf die Ohren. Geile Punkband, leider 1987 aufgelöst. Zumindest einen Moment lang war ich glücklich und ich hörte das Klingeln an der Tür nicht mehr, war nicht meine Baustelle. Zu mir kam keiner. Nicht mal mehr Tini. Komischerweise waren bisher keine Vorwürfe über mein Verhalten seitens der Familie gekommen.
Mutter arbeitete sich im Bürgerbüro kaputt und mein Vater – was machte der eigentlich die ganze Zeit? Hatte ihn länger nicht gesehen, fiel mir auf. War auch egal. Oder? Was, wenn es diese Familie bald nicht mehr geben würde? Kalle und seine verqueren Ansagen verfolgten mich.
Der Drache in meinem Inneren schüttelte traurig den Kopf. „Du bist still“, äußerte ich laut, obwohl er gar nichts gesagt hatte.

Heiligabend. So ein Mist! Ich hatte es nicht geschafft, die Wohnung noch einmal zu verlassen.
Mutter klopfte an. „Kann ich reinkommen?“
Ich erhob mich von meinem Bett und öffnete die Tür. „Klar.“
Wenn sie mir jetzt erzählte, dass sich meine Eltern trennen wollten, würde ich ausflippen. Aber die Lage musste ernst sein, ihrem Gesicht nach. Das war‘s dann mit Familie. Sogar der Drache drehte sich von mir weg.
Derweil setzte sich meine Mutter auf das unordentliche Bett und starrte mein Tote-Hosen-Poster an.
Unruhig tippelte ich mit dem Fuß auf dem Boden rum.
„Ich weiß, du wirst gleich explodieren, aber-“
Das war‘s! Ich warf mich auf den Boden, schrie und heulte, bevor sie weitersprechen konnte. Wusste nicht mal wieso, weil mir diese Familie eh nichts bedeutete. Egal, was Kalle sagte. Aber Mutterns Herz, die Überarbeitung, sie war auch nicht mehr die jüngste und überhaupt. Irgendwann realisierte ich ihren merkwürdigen Blick. Ich schniefte und setzte mich anständig hin.
„Kann ich weitersprechen?“
Unter übelster Anstrengung bekämpfte ich die nächste Heulkrampf-Attacke. Der Drache reichte mir eine imaginäre Taschentuchbox. Trotzig zog ich den Naseninhalt hoch.
„Dein Vater wird Weihnachten nicht da sein. Da habe ich mir gedacht, wir könnten Kalle einladen.“
„Säufer-Kalle? Was sollen wir denn die ganze Zeit mit ihm reden? Er will doch eh nur sterben.“ Ich war irritiert. Was war das denn für eine Ansage von ihr? Sie kannte ihn doch kaum.
„Den Kalle, der jetzt schon mehrfach hier geklingelt hat und sich nach deinem Befinden erkundigte.“ Sie hob die Hand, als ich was einwenden wollte. „Und das, obwohl er panische Angst vor Ansteckung hat, wie er mir erzählte. Ich habe ihm ein Bett in einer Notunterkunft besorgt.“
Ich öffnete den Mund, wollte was sagen, aber die Gedanken sprangen so hin und her, dass ich keinen Laut herausbekam.
„Ich nehme das mal als ein Ja?“ Sie lächelte und stand auf.
Meine Verwirrung war derart gewachsen, dass selbst der Drache nicht wusste, ob er Feuer speien oder rülpsen sollte. „Warte mal! Was ist jetzt mit Vater?“
„Ach, ja, der hat einen künstlerischen Auftrag bekommen und musste dazu verreisen. Leider – du kennst deinen Vater – hat er sich wenig Gedanken um das Datum gemacht, als er zusagte.“
„Oh. Also trennt ihr euch nicht?“
Jetzt schaute sie irritiert. „Wieso sollten wir?“
Ich zuckte mit den Schultern. Und kam mir doof vor.
„Angsthase“, zischte der Drache. Vielen Dank auch.
Mutter verließ mein Zimmer mit den Worten: „Ich muss jetzt einiges vorbereiten, mach dich für das Abendessen fertig, damit du dann vorzeigbar bist.“
Früher hätte mich das ‚vorzeigbar‘ übel aufgeregt. Als wäre ich das so nicht. Ich schaute auf meine verschiedenen Socken in den Badeschlappen und die Unterhose, die ich schon zwei Tage anhatte.
„Ich geh ja schon unter die Dusche!“, brüllte ich den Drachen an.

Kurz vor 18 Uhr klingelte es.
„Öffne mal bitte, Olpi, ich hab mit dem Vogel zu kämpfen.“
Ich tat, wie mir geheißen, drückte den Türsummer und wartete auf das Fahrstuhlgeräusch. Immerhin waren wir im zehnten Stock. Es blieb aus, ich steckte einen Klotz in die Tür und lief zum Lift. Auf dem Schild von der Wartungseinheit stand: Defekt. Großartig. Natürlich machen die an Feiertagen auch nix. Den Aufpreis waren wir der Hausverwaltung nicht wert.
Jemand schnaufte sich derweil die Treppen hoch.
Ich trat ans Geländer und schaute runter. „Kalle!“
„Olpiiii!“ Ein Hustenanfall folgte.
„Mach mal langsam!“, schrie ich über die Etagen.
„Schneller geht’s auch nicht!“, schrie er zurück.
Okay, das konnte noch dauern.
Irgendwann hatte es Kalle geschafft. Er sah anders aus.
„Kalle, sind das passende Klamotten? Wow!“
Er klopfte mir grob auf die Schulter, drehe sich dann einmal im Kreis. „Ein Weihnachtsgeschenk deiner Mutter. Sie hat meinen Anblick nicht ertragen und mich ins C&A geschleift.“ Dabei lachte er sein Kalle-Lachen.
Wir gingen hinein.
Mutter kam kurz aus der Küche. „Hallo Kalle, ich bin gleich fertig, setzt euch schon mal hin.“
„Na hör ma, kann ma dir was helfen?“
Als Kalle das so sagte, fiel dem Drachen in mir auf, dass ich das hätte auch mal fragen können. Wie wurde ich den bloß wieder los? Aber er hatte ja recht.

Nach dem Essen sagte Kalle: „Das ist das schönste Weihnachten, das ich je hatte.“ Dann schaute er betroffen auf seinen leeren Teller. „Seit meine Heidi tot ist.“
Bisher war ich froh gewesen, dass dieser Friedhofs-Sterbequatsch von Kalle nicht zur Sprache kam. Um dies auch für den Rest des Abends zu vermeiden, räusperte ich mich. „Du, Kalle, … meinst du, wir sollen nachher gemeinsam ans Grab gehen?“ Es kam mir selber komisch vor, aber es war wohl der Drache, der aus mir sprach.
Kalle schaute mich an. „So als Freunde? Oder willst du nur, dass ich mich da nicht besaufe und-“
„Kalle!“
„Schon gut, würde mich sehr freuen.“
Der Drache wurde langsam übermächtig. „Heute Abend wirst du hier im Wohnzimmer schlafen. Keine Widerrede.“
Kein tadelnder Blick von Mutter. Im Gegenteil.

Als ich spät am Abend in mein Zimmer ging, kam meine Mutter gerade aus dem Bad. Sie hielt mich am Arm fest.
„Ich bin heute wirklich stolz auf dich gewesen, mein Olpi.“
Dann knuddelte sie mich.
„Lass das!“, rief mein altes Ich.
Der Drache umarmte sie fest.

Text: June Is (@ypical_writer)
Illustration: Seitenkünstler Aaron

[tds_note]Ein CLUE-Beitrag zum Special #litadvent. In diesem Jahr haben wir drei Clues vorgegeben, die in den kreativen Texten auftauchen sollten: Tattoo, Schnürsenkel, Grünstreifen. Was sich die AutorInnen ausgedacht haben, könnt ihr hier lesen.[/tds_note]
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