Nacktbaden für Anfänger

von | 29.08.2017 | Belletristik, Buchpranger

In einer Zeit, als es noch unschicklich war, sich als Frau vor einem Mann die Schuhe anzuziehen, gerät die junge Clara unversehens in eine Gruppe Menschen, die sich, badend und zeichnend, vollkommen nackt an einem See vergnügen. In „Die Badende von Moritzburg“ von Ralf Günter verändert die Begegnung mit der Künstlergruppe „Die Brücke“ die Welt einer jungen Frau. Worteweberin Annika hat Clara nach Moritzburg begleitet.

Wegen ihrer Atemnot kommt Clara aus dem lebendigen Berlin ins langweilige Sanatorium in Dresden. Immer wenn ein Heiratskandidat um ihre Hand anhält, schnürt sich ihre Kehle zu. Dagegen sollen Luftbäder, Ruhe und vegetarische Kost helfen, doch der triste Alltag im Sanatorium gefällt Clara gar nicht. Da kommt der neue Arzt Dr. Brandstätter gerade richtig, der an Clara nicht nur die brandneuen Methoden des Sigmund Freud testet, sondern sie auch zu einem Ausflug ins nahe Moritzburg einlädt. Hier stolpert Clara über die nackten Künstler und ihre Modelle, die als Lebensreformer mit den Konventionen der Zeit brechen.

„Und die Grenze zwischen dem Ich und dem Du ist eine scharf gezogene. Wenn ich einen Menschen ganz erfassen will, muss ich diese Grenze überschreiten. Ich muss er werden. Oder sie.“

Von dem frivolen Verhalten und der fremden Lebenseinstellung ist die junge Berlinerin zuerst entsetzt, doch andererseits: Warum eigentlich nicht? Clara verbringt einen Tag am See mit den Künstlern der „Brücke“, gibt sich Ernst Kirchner hin und wird zur Frau. Doch natürlich muss sie nach dem erlebnisreichen und farbenfrohen Sommertag zurückkehren in ihr richtiges Leben.

Eine spannende Zeitreise

„Die Badende von Moritzburg“ entführt die Lesenden ins Deutschland der 1910er Jahre und transportiert beeindruckend leichtfüßig das Lebensgefühl jener Zeit. Obwohl der Text nur knapp 100 Seiten lang ist, ganz ohne belehrend schulbuchartig zu erscheinen, werden sehr viele Themen der damaligen Zeit angesprochen: Sigmund Freuds Psychoanalyse, die gegen die gesellschaftlichen Regeln aufbegehrenden Lebensreformer, die Zwänge des Anstands, die Militäreinsätze und Einstellungen zu den deutschen Kolonien in Afrika und natürlich die Auffassung von Kunst der „Brücke“-Maler. Dabei lässt sich die Novelle gut an einem langen, warmen Sommerabend weg lesen.

Die Charaktere wirken interessant und vielschichtig und die Geschichte lädt zum Mitfiebern ein: Wie soll Clara sich verhalten, für was für ein Leben wird sie sich am Ende entscheiden? „Die Badende von Moritzburg“ bietet damit spannendes und stilistisch schön verpacktes Geschichtswissen und Unterhaltung in einem. Und es macht Lust, die Bilder der „Brücke“-Künstler (neu) zu entdecken.

Die Badende von Moritzburg. Eine Sommernovelle. Ralf Günter. Kindler. 2017.

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