NACHT-SCHRECK

von | 21.10.2018 | #Todesstadt, Kreativlabor, Specials

Flink und unerkannt huscht er durch die Gassen der Kleinstadt, springt von Schatten zu Schatten und meidet jede Lichtquelle, wo er nur kann. An einer Straßenecke hält er, sicher versteckt hinter einer Mülltonne, an und lauscht in die Finsternis hinaus. Er wartet darauf, dass sie ihn rufen, so wie jede Nacht.
Um sie besser hören zu können, schließt er die Augen. Es hat bisher noch keine einzige Nacht gegeben, in der er sich umsonst auf die Suche begeben hätte; zuverlässig kommen sie, auf die er wartet, immer wieder und ebenso zuverlässig rufen sie nach ihm.
Tatsächlich dauert es nicht lange, bis er eine entsprechende Botschaft wahrnimmt, gesendet auf einer Wellenlänge, die für alle andersartigen Wesen unerkennbar ist. Seinen eigens darauf ausgerichteten, feinen Rezeptoren aber entgeht kein einziges Signal – die Jagdzeit kann beginnen!
Rasch, aber lautlos verfolgt er das Geräusch bis zu seinem Ursprung zurück: ein altes, nicht mehr sehr robust wirkendes Haus nicht unweit des Stadtrandes, zweiter Stock. Kurz überlegt er, die Eingangstür zu nutzen, aber irgendwie ist ihm heute nicht nach Treppensteigen. Stattdessen flitzt er die Hauswand hinauf, schneller als jeder Fassadenkletterer und viel besser getarnt.
Im zweiten Stockwerk angekommen, huscht er raffiniert durchs geschlossene Fenster, so als wäre es das einfachste der Welt. Es geht zu rasch, als dass ein Menschenauge es wahrnehmen könnte; außerdem, selbst wenn sie seinem Trick auf die Schliche kämen, würden die seiner Meinung nach ziemlich begriffsstutzigen Zweibeiner sowieso ihren eigenen Augen nicht trauen. Immerhin glauben diese Primitiven tatsächlich noch an Unmöglichkeit… Tsss!
Auf dem Fenstersims verweilend sieht er sich kurz um. Der Raum ist in relative Dunkelheit getaucht, die Vorhänge sind allerdings nicht dicht genug, um das Mondlicht ganz auszusperren. Für seine Wahrnehmung macht es keinen Unterschied, wie hell es ist oder nicht; selbst in tiefster Schwärze kann er problemlos alles sehen. Allerdings hat er gelernt, den szenisch-dramatischen Effekt von Licht nicht zu unterschätzen; wie viele in seinem Metier ist auch er ein Liebhaber von Theatralik und Pathos geworden.
Im Raum befindet sich nebst diversen anderen Möbelstücken ein Einzelbett, in dem ein Mann schläft, circa um die dreißig, das blonde Haar bereits von silbernen Strähnen durchzogen. Sein Atem geht schnell und ungleichmäßig, unruhig wirft er sich hin und her und stößt dabei immer wieder seltsam klingende Laute aus. Seine Gesichtszüge sind alles andere als entspannt, sie sind zu einer Grimasse aus Angst, Panik und Grauen verzerrt. Alles schreit förmlich nach „Alptraum“ – das perfekte Opfer für das Wesen auf dem Fenstersims.
Die kleine koboldartige Gestalt grinst hämisch. Sie liebt dieses Schauspiel, das sich ihr hier zum wiederholten Mal bietet, sie genießt es und kann gar nicht genug davon bekommen. In manchen Nächten sitzt sie oft minutenlang nur davor und saugt dieses Bild in sich auf; je schlimmer und ausdrucksvoller die Symptome des Träumenden desto besser.
In dieser Nacht aber ist er ungeduldig, der Alp, der von manchen auch Mahr genannt wird – solange sie ihn nur ausreichend fürchten, ist es ihm egal, welche Namen sie ihm geben. Er springt vom Fenstersims, hopst hinüber zum Bett und im nächsten Moment sitzt er dem Schlafenden schon auf der Brust.
Dies ist sein liebster Moment: Wenn es ihn nach unten zieht in die unendlichen Tiefen der menschlichen Alpträume und er sieht, was sie sehen. Ihre Sorgen, ihre Ängste, ihre Geschichte. Kaum zu glauben, was es da alles zu sehen gibt. Auch wenn sich vieles wiederholt, die „menschlichen Basics“ wie er das nennt, so wartet doch auch nach all den Jahren ab und zu eine Überraschung auf ihn. In dieser Hinsicht ist er recht genügsam; es macht ihm nichts aus, immer und immer wieder das gleiche mitzuerleben. Hauptsache es ist schön grauenvoll und grausig. Seine liebsten Ausdrücke gehören allesamt in dieses Wortfeld. Und ja, er ist richtig stolz darauf.
Kaum sitzt der Alp auf dem Schlafenden, wird er in die Szene hineingesogen und -gezogen. Folgendes spielt sich dort ab: Aus den Augen des Träumenden schaut der Alp von der Straße aus zum Dach eines mehrstöckigen Gebäudes hinauf, wo ein Mann viel zu nahe am Abgrund steht, das schwarze Haar zerzaust, der Mantel offen, die Augen auf die des nun Schlafenden gerichtet, wie man auch von hier unten aus wahrnehmen kann. Instinktiv weiß der Alp, dass es sich dabei um den besten Freund des Träumenden handelt; einmal im Traum, hat er Zugang zu allen damit verknüpften Gedanken und Gefühlen des Menschen.
Er wirkt verloren da oben, der Schwarzhaarige, irgendwie fehl am Platz und doch trägt er einen Ausdruck der Entschlossenheit. Es ist absehbar, was nun geschehen wird.
Der Alp spürt das Herz des Schlafenden wie verrückt schlagen, fast so, als wäre es sein eigenes. Er spürt die Überraschung, die zu Ungläubigkeit wird und sich dann in Angst und Panik verwandelt. Er hört seine Gedanken, die aus einem endlosen Strom von „Nein, nein, nein, nein, nein, …!“ zu bestehen scheinen. Er fühlt, wie die Furcht alle Glieder des Zuschauenden lähmt und alles nur noch aus diesem einzelnen Moment zu bestehen scheint.
Genau in dem Moment, als der Schlafende laut den Namen des Schwarzhaarigen nach oben brüllt, breitet dieser die Arme aus, schließt die Augen und lässt sich fallen.
„Episch“, denkt sich der Alp. Plötzlich spielt sich alles in Zeitlupe ab; genau der dramatische Effekt, den er sich gewünscht hat.
Mitleid kennt er nicht, Mitgefühl ebenso wenig. Eigentlich ironisch, da er doch in den Träumen alles wie seine Opfer wahrnimmt, alles fühlt wie sie. Je intensiver, desto besser. Es ist der Adrenalinrausch, nach dem er süchtig ist. Tief eintauchen und dann unbeschadet wieder daraus hervorgehen.
Im Traum ist die Welt des Schlafenden zerstört, sie liegt zertrümmert am Boden wie der reglose Körper unweit von ihm. Er bekommt keine Luft mehr, kann nicht mehr atmen, geht zu Boden. Der Alp beobachtet, wie der Mann sich auf allen Vieren vorwärts kämpft, in Richtung seines Freundes. Er greift nach dessen Handgelenk, tastet nach einem Puls, aber da ist nichts mehr. Nur Leere und Stille. Ungläubigkeit senkt sich erneut über den Schlafenden. „Das kann nicht sein… kann nicht sein… es kann nicht sein… nein, nein, nein, nein, nein…!“
Fasziniert von der menschlichen Fähigkeit zu fühlen, beobachtet ihn der Alp. Etwas, was er schon so oft gesehen hat und von dem er doch noch nicht genug hat, noch lange nicht.
Der Träumende steht unter Schock. Nichts mehr ist wie es war. So viele Worte ungesagt, so viele „hätte“ und „könnte“ und „würde“. Wie soll er das jemals überstehen?
Da vernimmt der Alp plötzlich ein leises Pfeifen in seinen Ohren, ein Signal dafür, dass der nächste Alptraum anderswo auf ihn wartet. Kurz überlegt er, wägt ab, ob er es nicht noch ein wenig hinauszögern soll. Jetzt, wo es so schön dramatisch ist.
Er prüft das Signal. Längst hat er gelernt, aus dessen Feinheiten herauszuhören, ob sich der Weg zu dessen Ursprung überhaupt lohnt. Dieses hier hört sich verdächtig gut an; nach etwas, was genau seinem Geschmack entsprechen könnte. Also entscheidet sich der Alp mit einem letzten Blick auf die Szene vor ihm dafür, den Schlafenden aus seinem Traum zu entlassen und seine Nacht anderswo fortzusetzen.
Mit diesem Entschluss wird er aus dem Traum herauskatapultiert und springt von der Brust des Schlafenden. Dieser ist verschwitzt und wimmert leise, die Laken sind zerwühlt, sein Gesicht in Schmerzen verzerrt. Es wird noch einige Sekunden dauern, bis er aufschrecken wird, fürs Erste erlöst und doch auch wieder nicht.
Auf dem Fenstersims hält der Alp kurz inne und blickt auf den Schlafenden zurück. Aus irgendeinem Grund weiß er, dass es sich bei der eben gesehenen Szene im Traum nicht um irgendwelche Fantasien des Unterbewusstseins handelt, sondern um eine Erinnerung des Mannes. Wenn er erwacht, wird zwar dieser Moment verschwunden, sein Freund aber noch immer tot sein.
Der Alp zuckt mit den Schultern. Es ist gut, dass er kein Mensch ist; er ist froh darüber. Die merkwürdigen Zweibeiner scheinen manchmal ganz schön unter ihren Gefühlen zu leiden. Ein kurzer Gedanke, der gleich wieder verschwindet und vergessen ist.
Gleichgültig wendet sich der Alp ab. Er huscht durchs Fenster, die Hauswand hinunter, in die Nacht hinaus. Man ruft nach ihm. Auf zu einem neuen Drama!

Text: Verseflüsterin Silvia
Illustration: Federschreiberin Kristina

[tds_note]Ein Beitrag zum Special #Todesstadt. Hier findet ihr alle Beiträge.[/tds_note]
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