„Na, willst du mal eine Leiche sehen?“

von | 18.11.2018 | Buchpranger

In Hamburg fand das 12. Krimifestival statt, unter anderem mit Gästen wie Sebastian Fitzek, Charlotte Link und Nele Neuhaus. Auch Michael Tsokos, ein Rechtsmediziner aus Berlin, hat das Festival mit Wissen und Erfahrungen rund um Leichen bereichert. Poesiearchitektin Lena, die früher Kriminalpolizistin werden wollte, überlegt es sich jetzt noch mal ganz genau.

Grund dafür ist die Veranstaltung Faszination Rechtsmedizin: 10 Jahre Michael Tsokos. Was genau das Publikum erwartet, ist anfangs unklar, bis der Moderator Herr Heymann darauf hinweist, dass Tzokos einen Rückblick über seine 10 Bücher mit realen Fällen geben wird, mit Bildern von echten Toten begleitet. Teilweise seien die so grausam, dass Überlegungen stattfanden, die Lesung erst ab 16 oder 18 freizugeben.

Suizid, Tötungsdelikt oder ein Unfall?

Der erste Fall, den Tsokos vorstellt, heißt „Das Skelett auf der Rückbank.“ Ein Mann mit Eheschwierigkeiten hat in seinem Auto eine Explosion herbeigeführt. Während der Explosion hat er noch gelebt. Sowohl das Skelett als auch die Luftröhre voller Ruß des Opfers und das Feuerzeug kann sich das Publikum während der Erzählung anschauen.

Kurz darauf folgt „Nackte Tatsachen“. Eine halb entblößte Leiche wird in einem Sandkasten gefunden. Der Mann war extrem alkoholisiert und ist an einer Unterkühlung gestorben. Menschen, die massiv unterkühlt sind, empfinden ein extremes Wärmeempfinden (das sogenannte „paradoxe Entkleiden“) und ziehen sich aus, bevor sie sterben. Die Bilder dazu sind bedrückend.

Danach wird es deutlich schlimmer. „Tödliche Lust“ behandelt Fälle, bei denen Menschen an autoerotischen Unfällen gestorben sind. Sie strangulieren sich durch eine Selbstfesselung, meistens hängend an einem Haken, in fetischartiger Kleidung (Lack und Leder), schauen sich dabei im Spiegel an, werden erregt und verlieren das Bewusstsein. Würden sie sich selber würgen, würde die Hand bei Sauerstoffmangel erschlaffen und sie würden wieder aufwachen. Da sie aber in der Schlaufe hängen, während sie das Bewusstsein verlieren, sterben sie.

Weitere Fälle sind beispielsweise ein Pärchen, das im Auto an die Handbremse kommt, sie löst und im Wasser ertrinkt, Menschen, die Angehörige im Keller vergessen, eine Gefriertruhe in ein Grab umwandeln oder Leichen, die in Rollkoffern herumgefahren werden.

Der Nachläufer

Ein Fall ist besonders unangenehm. Es handelt sich um den sogenannten Nachläufer, der sich ein Opfer aussucht, ihm bis zur Wohnung folgt, es dann hinein schubst, es umbringt und ausraubt. In dieser Situation war eine etwas ältere Frau, die tot im Flur lag, ihre Einkäufe noch verstreut und die gesamte Wohnung durchgewühlt. Der Mörder ist zum Flughafen gefahren, hat sich irgendein Ziel ausgesucht, ist hingeflogen, hat jemanden in der Nähe getötet und ist direkt danach erneut zum Flughafen und woanders hingeflogen. So konnte man ihn nicht mit den Morden in Verbindung bringen. Erst als er gefasst wurde und erzählt hat, wo er überall gemordet hat, konnte man diese Fälle aufklären.

Alles andere bisher war „Eigenverschulden“ oder Pech, aber kein brutaler Mord. Bis dahin dachte man: „Das kann mir sowieso nicht passieren.“ Aber wenn es um Menschen geht, die eine ausgeprägte Psychose haben, welche spontan handeln und deren Handlungen man nicht vorausahnen kann, dann ist die Stimmung gleich anders. Es ist sehr beklemmend, zu diesem Bericht auch noch reale Bilder zu sehen, denn das macht es umso grausamer. Ich gehe stark davon aus, dass ein großer Teil des Publikums beim Nachhausegehen ganz genau nachgeschaut hat, ob dort jemand ist, der einen verfolgt und die Tür schneller und leicht panisch geschlossen hat.

Fazit

Wie oft hat man die Möglichkeit, von einem Rechtsmediziner, der bereits über 200.000 Leichen gesehen hat, etwas über die Aufklärung von echten Fällen zu hören? Nicht häufig. Der Saal im Kampnagel war fast komplett gefüllt mit Krimifans und gespannten Zuhörern. Aus der Lesung hätte man allerdings viel mehr machen können. Tsokos stand die meiste Zeit lässig angelehnt am Rednerpult, hatte eine Powerpoint-Präsentation mitgebracht, die aussah, als hätte sie ein Fünftklässler zusammengebastelt: Stichpunktaufzählungen, einen Kreis aus Büchern, der sich gedreht hat und das Buch, welches vorgestellt wurde, wurde in den Vordergrund gestellt.

Die Fotos und Bilder wurden während den Erzählungen klassisch weitergeklickt. Es gab sehr viele Bilder, von seinen Freunden und Kollegen, die ihn alle schätzen, und in Verfilmungen seiner Bücher mitgespielt haben, die aber nicht von Interesse waren. Tsokos hat das Gefühl übermittelt, dass er in allem, was er tut, sehr viel Erfolg hat und ein ganz toller Typ ist. Er ist ein anerkannter Rechtsmediziner, er hatte eine eigene Serie, hat 10 Bücher herausgebracht, ein paar wurden verfilmt, er hat in manch einem Film oder in Serien mitgespielt.

Auch seine Buchwahl, aus der er vorgelesen hat – „Sind Tote immer leichenblass? Die größten Irrtümer über die Rechtsmedizin“ – sollte wohl etwas auflockern, war meiner Meinung nach nicht unpassend, aber vollkommen überflüssig. Auch den Einblick in sein neues Buch „Abgeschlagen“, welches nächstes Jahr erscheint, war nicht so fesselnd, dass ich mir das Erscheinungsdatum in den Kalender eintragen würde.

Foto: Poesiearchitektin Lena

 

Bücherstadt Magazin

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1 Kommentar

  1. Avatar

    In der Lesung sind alle Klischees und die Lust am Ekel bedient worden. Langweilig und vorhersehbar. Über die Rollkoffer und die Nachläufer hätte ich lieber nichts gewusst.
    Wieder mal auf dem Punkt Lena.

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