Mobbing mal anders erzählt

von | 11.05.2020 | Buchpranger, Kinder- und Jugendbücher

„Ich bin Vincent und ich habe keine Angst“ der niederländischen Autorin Enne Koens wurde sowohl für den Deutschen Jugendliteraturpreis nominiert als auch mit dem Leipziger Lesekompass ausgezeichnet. Das hat Worteweberin Annika neugierig gemacht.

Über das Thema Mobbing wurden schon viele Kinderbücher geschrieben. Die meisten von ihnen haben einen großen pädagogischen Anspruch und werden daher gerne als Schullektüre verwendet. Der Nachteil: Sie wirken verkrampft und können die Kinder und Jugendlichen nicht erreichen. „Ich bin Vincent und ich habe keine Angst“ ist anders. Es ist berührend, abenteuerlich, sogar witzig. Wie das gelingt? Mit starken Figuren, imaginären Tier-Freunden, einem Survival-Handbuch und viel Einfühlungsvermögen.

Der Countdown läuft

In sieben Tagen ist es so weit: Vincents Klassenfahrt geht los. Fünf Tage sollen die Kinder in einem Schullandheim im Wald verbringen. Während die anderen Pläne für Lagerfeuer, Spiele und Präsentationen schmieden, tüftelt Vincent aus, wie er diese Zeit überleben kann. Denn Dilan, der es sowieso auf Vincent abgesehen hat, will ihm auf der Klassenfahrt eins auswischen. Zum Glück hat Vincent ein Buch über das Überleben in der Wildnis gelesen und ein Survival-Kit gepackt. Dass er es brauchen wird, erfahren die Leserinnen und Leser schon im Prolog, in dem Vincent wie ein gehetztes Tier eine Nacht im Wald verbringen muss, auf der Flucht.

Nach dem Prolog gliedert der Countdown bis zum Beginn der Klassenfahrt die Kapitel. Immer deutlicher wird, wie Vincent in die missliche Lage im Wald geraten kann. Dilan und seine Freunde verprügeln Vincent regelmäßig nach der Schule, sabotieren seinen Vortrag vor der Klasse und sorgen dafür, dass er nur mit Bauchweh zum Unterricht geht. Seinen Eltern kann er davon nicht erzählen, denkt Vincent, denn sie hätten sowieso kein Verständnis für ihn.

„Bin ich denn der Einzige, der ein klein wenig anders ist? Und warum muss jemand, der ein klein wenig anders ist, gemobbt werden? Darüber kann ich lange nachdenken.“ (S. 73)

Es wissen nur wenige von Vincents Ängsten: Vincents Babysitterin Charlotte und vier sprechende Tiere. Ein Käfer, ein Fohlen, ein Eichhörnchen und ein Wurm begleiten Vincent mit Ratschlägen und schlechten Witzen durch seinen Alltag. Im Roman tauchen sie zudem immer wieder in den grün-weiß-schwarzen Illustrationen von Maartje Kuiper auf, die herrlich mit Enne Koens poetischer Sprache harmonieren.

Eine neue Freundin

Die sieben Tage vor der Klassenfahrt sind auch deswegen ganz besonders für Vincent, weil er in ihnen Jaqueline kennenlernt. Sie wird nur „Die Jacke“ genannt und sie ist echt cool. Außerdem interessiert sie sich nicht für Dilan und die anderen Kinder der Klasse, sondern ausgerechnet für Vincent. Könnte Die Jacke seine neue Freundin werden?

Mit Jaqueline und Charlotte präsentiert der Roman zwei starke weibliche Figuren. Ihre Unterstützung ist der Schlüssel zu Vincents Happy End – denn dass es in einem Roman über Mobbing eines geben muss, kann an dieser Stelle schon verraten werden. Vincent hingegen, aus dessen Ich-Perspektive der Roman erzählt ist, darf Schwäche zeigen. Seine Gedanken und Gefühle erleben die Leserinnen und Leser hautnah mit. Das berührt – ich jedenfalls habe für Vincent einige Tränchen verdrückt und mit ihm mitgefiebert.

„Ich fühle mich nur so leicht und froh, wie ich mich noch nie zuvor im Leben gefühlt habe, und ich tanze wie ein Betrunkener auf einem Felsen, hoch über der blöden Welt mit ihren Regeln und Schubladen und ihren öden normalen Leuten […].“ (S. 176)

Trotzdem ist Vincent mehr als bloß das Opfer. Durch das Survival-Buch hat er besondere Fähigkeiten, die ihm Stärke verleihen und die die Figur für Kinder interessant machen. In jedes Kapitel wird mit einem Auszug aus dem Handbuch eingeleitet. Im Roman wird auch die Frage gestellt, warum Vincent ausgegrenzt und gemobbt wird. Ist er anders? Die Antwort, die Enne Koens findet, macht Mut.

„Ich bin Vincent und ich habe keine Angst“ ist eine Wucht: traurig, witzig, spannend. Wie Vincent selbst ist dieser Roman anders als die anderen – und das ist auch gut so.

Ich bin Vincent und ich habe keine Angst. Enne Koens. Illustration: Maartje Kuiper. Aus dem Niederländischen von Andrea Kluitmann. Gerstenberg. 2019. Ab 9 Jahren.

 

Bücherstadt Magazin

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