Einsame, verlassene Seele: Menschenseele

von | 06.07.2016 | Belletristik, Buchpranger

Manche Bücher lassen mich fragend zurück. Aber muss ein Buch wirklich immer eine Aussage haben, Antworten liefern oder gar die Lösung für jedes Problem? Ganz sicher nicht. Dies bestätigte mir auf indirekte Weise Véronique Bizot mit ihrem neuen Roman „Menschenseele“. – Von Zeichensetzerin Alexa

Bizot_Menschenseele_Cov_Aufsicht.inddDieses Buch ist in einem Rutsch gelesen, aber „einfach“ ist es deshalb keineswegs. Was bereits zu Beginn auffällt, sind die verwobenen Sätze, Schachtelsätze, die viel beschreiben und doch wieder nicht. Denn was erzählt wird, ist gelesen und wieder vergessen, nur um dann später wieder ins Gedächtnis zurück zu kriechen. Das Leseerlebnis ließe sich aufgrund der Sprache mit einem Sog vergleichen: Satz um Satz um Satz – es ist mir unmöglich, mit dem Lesen aufzuhören. Die fehlenden Absätze und Anführungsstriche bei Dialogen verstärken noch diesen nicht enden wollenden Sog. Einzig die Einteilung in Kapitel fördert die Denkpausen.

Zusammen einsam sein

Einer unendlichen Wendeltreppe gleich ist auch die Geschichte: Es geht voran, aber wird man jemals ankommen? Vier Männer, einer davon der „stille“ Ich-Erzähler, begeben sich auf eine Reise nach Italien. Und doch geht es weder um diese Reise noch um sonstige Begebenheiten, sondern vielmehr um die Persönlichkeit der vier Protagonisten: Da ist der misanthropische Theaterautor Fouks, ein geheimnisvoller Fan, ein Übersetzer und dessen Bruder, der Ich-Erzähler. Sie sprechen miteinander und sie schweigen sich an.

Hinsichtlich dieser Frage der Einsamkeit sagte Fouks, das sei ein mit aller Priorität anzustrebender wie auch mit aller Priorität zu fliehender Zustand, und da er ständig zwischen dem einen und dem anderen geschwankt habe, sei er zu der Schlussfolgerung gelangt, dass es ebenso wenig eine ideale Einsamkeit wie eine ideale Gesellschaft gebe, nichts als ein grotesker Aufruhr der Nerven, sodass Montoya es seiner Meinung nach höchstwahrscheinlich unserem unverhofften Erscheinen in seinem Blickfeld verdanke, in letzter Minute die Selbstbeherrschung wiedererlangt zu haben. (S. 42)

„Menschenseele“

In Bizots Sprache liegt etwas Melancholisches und Geheimnisvolles, sodass einzig ihr Stil ausreicht, um selbst die banalste Geschichte interessant zu machen. Andeutungen auf das Unglück, das den Eltern dieser Brüder widerfahren ist, halten die Spannung aufrecht. Hier wird jedoch keine Spannung konstruiert, welche die Leser bei Laune halten soll. Sie entwickelt sich eher aus der Frage heraus, wohin die Reise die Protagonisten führen mag – auch metaphorisch gesehen. Denn nicht umsonst trägt das Buch den Titel „Menschenseele“. Es geht mehr um das Innenleben, die Gedanken, die Gefühle, die eigene Identität und weniger um das Drumherum. Der Körper ist nur der Kokon, in dessen Innerem die Menschenseele wächst. Manches tritt sichtbar hervor, manches bleibt weiterhin tief verborgen. Der Ich-Erzähler ist ein gutes Beispiel hierfür:

Gib mir wenigstens ein Zeichen, sagte er, ein Lächeln, irgendwas, und er runzelte die Stirn oder schlug mit der Faust auf die Möbel. Ich stellte die Teller, zwei Teller, auf den Tisch, während er Nudeln kochte. Mein Bruder redete, ich hörte zu, wie ich allem zuhörte, das Gesicht allen Mündern zugewandt. (S. 21)

Zurückgelassen

Doch so sehr ich mich auch bemühe, Antworten auf meine Fragen zu finden – am Ende werde ich mit einem Gefühl zurückgelassen, das nah an das der Protagonisten herankommt: Was auch immer ich tue, ich kann das Leben und all die Dinge, die geschehen – die Tragödien, die Katastrophen, den Schmerz – nicht erklären. Noch weniger aber kann ich voraussehen, was geschehen wird oder die Vergangenheit wieder zurückdrehen und Entscheidungen ändern.

[…] und von da an kann ich mir nicht mehr ganz genau vergegenwärtigen, wie die Dinge abliefen, was mir vorher leicht gefallen war, als ich lediglich beobachtet und zugehört hatte, und mir das, was ich beobachtete und hörte, auch wenn es bereits, wie ich jetzt weiß, mein Leben war, damals nur als ein Hintergrund, eine Grundlage, eine Art Landschaft erschienen war, in der ich keinerlei echte Funktion hatte. (S. 125)

Bizot macht dieses Gefühl des „Zurücklassens“ oder „Verlassens“ nicht nur durch ihre Protagonisten deutlich, sondern auch durch ihren Erzählstil. Das, was sie schreibt, schwappt unmittelbar auf die Lesenden über – und da ist es vollkommen irrelevant, wie die Handlung gestaltet ist oder wie viel die Protagonisten erleben. Wir können nicht das Gesamte erfassen, alles sehen, alles um uns herum gleich wahrnehmen. Die 142 Seiten bieten demnach nur einen kleinen Einblick in eine Phase des Lebens von vier Männern.

„Menschenseele“ überzeugt sprachlich sowie inhaltlich mit literarischer Qualität und eignet sich vor allem für diejenigen, die gerne anspruchsvolle Literatur lesen oder sich mit Texten literaturwissenschaftlich auseinandersetzen.

Menschenseele. Véronique Bizot. Steidl Verlag. 2016.
Aus dem Französischen von Tobias Scheffel und Claudia Steinitz.

Bücherstadt Magazin

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