Memento Monstrum – Interview mit einem Vampir

von | 27.10.2020 | #Todesstadt, Buchpranger, Kinder- und Jugendbücher, Specials

Bücherstädterin Kathrin hat das Buch „Memento Monstrum“ von Jochen Till und Wiebke Rauers einmal genauer unter die Lupe genommen und dafür das Schloss des Grafen aufgesucht, um sich mit ihm über sein neues Werk zu unterhalten.

Ein charakteristischer tief roter Mantel passend zu den blutroten Augen, eine runde, dunkle Brille, erschreckend lange blitzweiße Zähne, Fledermausflügel und ein flauschiges Fell, das seinesgleichen sucht – das dürfte dem einen oder anderen sicher bekannt vorkommen. Richtig! Die Rede ist hier natürlich von Graf Dracula höchstpersönlich. Das einzige irritierende Detail dürfte das wirklich wahnsinnig flauschige Fell sein, das …

„Dürfte ich Sie bitten, junge Dame, mein Fell nicht ständig als flauschig zu bezeichnen? Zugegeben, es ist recht glänzend, aber ich und das Wort flauschig passen nicht wirklich zusammen, finden Sie nicht auch?“
„Herr Graf!“, ich zucke zusammen und starre ihn mit weit aufgerissenen Augen an. Vor mir steht oben Beschriebener höchstselbst und beäugt mich kritisch.
„Ich … entschuldigen Sie, ich wollte nicht …“ Langsam weiche ich einige Schritte zurück, bereit zum Sprint, sollte dies nötig sein, auch wenn ich nicht den Hauch einer Chance gegen einen fast 600 Jahre alten Vampir habe.
„589.“
„Wie bitte?“
„589 Jahre, nicht 600. Aufrunden wird überbewertet.“
„Können Sie Gedanken lesen?“
„Wer weiß das schon?“, lässig zuckt der Graf mit den Schultern. „Dürfte ich fragen, was Sie hier tun? Ich beobachte Sie nun schon länger, wie Sie um mein Schloss herumschleichen.“ Der Graf hebt fragend eine Augenbraue und verschränkt die Flügel.
„Ich … nun …“ Da ich mir sicher bin, mich dieser Frage nicht entziehen zu können, schlucke ich kurz, straffe meine Schultern und versuche meiner Stimme das Zittern zu nehmen. „Eigentlich, Herr Graf, möchte ich über ihr neues Buch Memento Monstrum sprechen.“ Ich schlucke und konzentriere mich. „Ein Meisterwerk, nebenbei bemerkt, wie ich finde. Ich konnte es nicht aus der Hand legen und bin nur so durch die Seiten geflogen.“ Der Graf lächelt bei diesen Worten und spitzt seine Fledermausohren. „Was Sie alles erlebt haben, ist wirklich beeindruckend.“
„Oh, vielen Dank, junge Dame. Das ist in der Tat ein triftiger Grund, warum haben Sie das nicht gleich gesagt? Kommen Sie doch bitte rein. Darf ich Ihnen einen Blutorangentee anbieten?“

Wenig später sitze ich mit einer Tasse blutrotem Tee (an dem ich nicht zu nippen wage) in einem Sessel dem Grafen gegenüber. Das Kaminfeuer knackt leise im Hintergrund. Mittlerweile hat die Neugier die Angst besiegt und meine Knie schlottern nicht mehr ganz so sehr. Ein Interview mit einem Vampir! So eine Gelegenheit kann ich mir doch nicht entgehen lassen.
Lässig überschlägt Graf Dracula seine Beine und nimmt schlürfend einen Schluck von seinem Tee. „Nun, Sie haben also mein Buch gelesen?“
Ich nicke heftig, bevor die Worte nur so aus mir heraussprudeln: „Ja! Und es war wirklich großartig! Es gibt so vieles, das ich noch nie über Sie gehört habe. Und wo Sie überall waren! Beeindruckend! Das sind ja Geschichten, die sich über Jahrhunderte und ganze Kontinente erstrecken! Mal befinden wir uns in Paris um 1909, dann wieder im Jahr 1436. Sie bringen uns die Yeti näher, genauso wie den sogenannten Schrecken vom Amazonas oder einen Schlagzeug spielenden Werwolf. Sie kennen die Beatles! Ich meine, die Beatles! Und wie Sie Ihren drei zuckersüßen Enkeln diese Geschichten Ihrer Vergangenheit erzählen ist einfach nur herzerwärmend.“ Ich halte kurz inne, um Luft zu holen, doch bevor ich mit meinen Lobeshymnen weitermachen kann, unterbricht mich der Graf: „Ich sehe, Sie scheinen mein Buch aufmerksam gelesen zu haben“, er glättet einige Falten seines roten Mantels, „und Sie haben sogar auf die Details geachtet. Das beeindruckt mich sehr. Denn Sie sagten die Yeti, was korrekt ist, denn sie ist eine sehr edle Dame – übrigens, hier würde ich das von Ihnen verwendete Wort flauschig für angemessen halten – vielen Dank für das Kompliment zu meinem Buch.“ Schmunzelnd lehnt sich der Graf zurück. „Aber ich wollte Sie nicht unterbrechen, meine Liebe, fahren Sie fort.“

Ich nicke und versuche meine Gedanken zu ordnen und meine Begeisterung etwas zu zügeln.
„Nun“, fahre ich etwas gesetzter fort, „die Illustrationen, die Ihre Geschichte begleiten, sind ebenfalls großartig. Wiebke Rauers hat sie angefertigt und Sie sehr gut getroffen, wie ich finde.“
Der Graf brummt zustimmend. „Ja, die Gute hat wirklich Talent. Allerdings muss ich anmerken, dass Sie mit meinem Fell vielleicht doch etwas übertrieben hat. Wenn ich mir die Bilder jetzt im Nachhinein so ansehe, verstehe ich Ihre Assoziation mit dem Begriff flauschig. Da hat Frau Rauers vielleicht doch etwas zu dick aufgetragen. Ansonsten hat sie aber alle Bilder aus meinem privaten Fotoalbum en détail übertragen und fantastisch koloriert.“
Bei der Erwähnung meines gewählten Begriffs sein Fell betreffend lächle ich verlegen. Dieses Wort scheint den Grafen wirklich ein wenig zu stören. Aber unter uns: Wiebke Rauers hat den Grafen wirklich haargenau getroffen. (Entschuldigt, dieses Wortspiel konnte ich mir im Eifer des Gefechts nicht verkneifen, aber erzählt dem Grafen nichts davon!) „Und Jochen Till hat Ihre Geschichte wirklich sehr gut erzählt. Da gibt es viele spannende Momente … Zum Beispiel: Wird die Yeti es schaffen ihren Ballerina-Traum zu erfüllen? …“
„… Was versteckt sich wirklich unter den Bandagen der Mumie? Werde ich Van Helsing ein weiteres Mal entkommen? …“, ergänzt der Graf.
„Wird Ihr Freund Bobo oder der sogenannte Schrecken vom Amazonas sein Glück finden?“, steuere ich bei.
„Was haben ein Werwolf und die Beatles gemeinsam?“
„Werden Ihre drei Enkel die zwei Tage mit Ihnen überleben?“, füge ich enthusiastisch hinzu.
Eine kurze Pause entsteht. „Da dramatisieren Sie nun etwas“, bremst mich der Graf aus und räuspert sich. Ich zucke merklich zusammen und halte die Luft an. „Aber eigentlich haben Sie recht.“ Ich atme erleichtert aus.

„Es war wirklich das erste Mal, dass ich völlig auf mich allein gestellt auf meine drei Enkel aufpassen musste. Sonst übernehmen das immer meine Frau oder meine Tochter, aber die beiden haben sich ein Wellness-Wochenende in Paris gegönnt und so war ich an der Reihe. Ich muss gestehen, ich habe wirklich nicht viel Ahnung von Kindern. Es kann so viel passieren, wenn man nicht richtig aufpasst: Plötzlich treten sie aus Versehen ins Sonnenlicht, weil sie nicht rechtzeitig ins Bett zu kriegen waren und schon hat man statt eines Enkels nur noch ein Häuflein Asche … Puffff …“ Der Graf wedelt untermalend mit den Armen und blickt mich besorgt an.
„Ich verstehe Ihre Sorge, Herr Graf, aber da muss ich Sie wirklich loben. Sie haben Ihre Enkel mit Ihren Geschichten sehr gut unterhalten und sich liebevoll um sie gekümmert. Sie haben sogar eine Buchhöhle für sie gebaut und sich durch nichts aus der Ruhe bringen lassen. Wenn ich das mal so umgangssprachlich formulieren darf: Sie haben einen wirklich tollen Job gemacht. Also ich hätte gerne einen Opa wie Sie!“
„Oh, vielen Dank meine Liebe. Ich fühle mich geschmeichelt.“
Vielleicht bilde ich es mir nur ein, aber der Graf scheint leicht zu erröten, auch wenn das aufgrund des flauschigen – Entschuldigung –, glänzenden Fells nicht mit an Sicherheit grenzender Wahrscheinlichkeit zu sagen ist.

Um den Grafen nicht noch mehr in Verlegenheit zu bringen, wechsle ich das Thema.
„Wichtig ist ja auch Ihre Botschaft hinter den Geschichten: Es ist nicht wichtig was man ist, sondern wer man ist, denn Monster ist nicht gleich Monster, nicht wahr?“
„Das haben Sie sehr schön zusammengefasst und ich bin froh, dass ich diese Botschaft übermitteln konnte. Nur weil jemand ein Werwolf ist, heißt das nicht, dass er nicht auch ein guter Freund sein kann, um nicht zu sagen mein bester. Nur weil jemand für eine Ballerina zu groß, zu kräftig und zu haarig ist, heißt das nicht, dass eine Yeti nicht tanzen kann oder darf. Das ist eine sehr wichtige Lehre, die ich auch meinen Enkeln mit auf den Weg geben wollte. Beherzigt man das und gibt dem Charakter hinter den langen Zähnen, dem zottigen Fell oder den Fischaugen eine Chance, kann man vielleicht einen Freund fürs Leben kennenlernen.“

Verstohlen wische ich mir eine Träne weg und schniefe etwas. „Das Kompliment kann ich nur an Sie zurückgeben, Herr Graf. Das haben Sie wirklich, wirklich schön gesagt! Danke für Ihre Worte.“ Der Graf lächelt huldvoll und nippt noch einmal an seinem Tee.
Plötzlich klingelt es, dann fliegt die Tür auf und drei kleine Vampire stürmen in die gute Stube und stürzen sich auf den Grafen. „Opa!“, rufen sie begeistert. Er wird unter einem Haufen flauschiger Vampirkinder begraben und lacht. „Da seid ihr ja wieder! Was habe ich euch vermisst!“
„Erzählst du uns eine Geschichte? Bitte!“
Das ist mein Stichwort. Ich erhebe mich, bedanke mich noch schnell beim Grafen und verlasse das Schloss. Ich habe die Person hinter dem Monster kennengelernt und bin froh, dass ich ihr eine Chance gegeben hab.

Solltet ihr, liebe Leserinnen und Leser, nun auch neugierig geworden sein, kann ich euch das Buch „Memento Monstrum“ nur wärmstens empfehlen. Es ist wirklich eine große Freude, sich die Geschichten über die Freunde vom Grafen erzählen zu lassen – und natürlich sind die Illustrationen von flauschigen Vampiren und anderen Monstern auch ein Riesenspaß – aber pssst – erwähnt das Wort auf keinen Fall gegenüber dem Grafen!

Memento Monstrum. Jochen Till. Nach einer Idee und mit Illustrationen von Wiebke Rauers. Coppenrath. 2020. Ab 9 Jahren.

[tds_note]Ein Beitrag zum Special #Todesstadt. Hier findet ihr alle Beiträge.[/tds_note]
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