Luftlöcher starren

von | 26.08.2018 | #Kunterbunt, Kreativlabor, Specials

„Manu.“
„…“ Manchmal muss ich einfach vor mich hinstarren, bevor ich mit einem Text beginnen kann.
„Manuela.“
„…“ Ich nenne es «Fakten ordnen». Iris nennt es «Luftlöcher starren».
„Manu.“ Oh, der Unterton wird penetrant. Ich sollte vielleicht aufsehen.

Ganz falsche Entscheidung. Iris’ Augen fesseln mich immer wieder, dass ich mich jetzt nicht mehr auf den Artikel konzentrieren kann. Sie lächelt breit.
Zwischen uns stehen bloß mein Laptop und ein Wäscheberg auf dem Bett, überlege ich. Ich bräuchte bloß zwei Minuten, um besagtes Bett zu räumen, um mit ihr das anstellen zu können, was ihre herrlichen Augen zum Strahlen bringt…
„Hör auf, so perverses Zeug zu denken“, kontert schon Iris meine Gedanken, und ich spüre, wie meine Wangen flammend rot werden. „Kannst du Gedanken lesen?“ Murrend reibe ich mir über den rechten Unterarm, versuche, meine Verlegenheit zu verbergen. Aber Iris kennt mich schon zu gut. Sie lächelt mir zu, so strahlend wie sonst kaum. Ich will dahin schmelzen wie das Eis neulich, als unsere Kühltruhe den Geist aufgegeben hat.
Verdammt. Ich darf mich nicht so oft ablenken lassen. Wir schweigen, und ich nutze das, um angestrengt auf den Bildschirm des Laptops zu starren. ‚Vielleicht kann ich die Fakten irgendwie gut zusammenbasteln?‘, frage ich mich mit gerunzelter Stirn. „Nein, die Arbeit muss schon gut werden“, murmle ich in meinen Bart und kann schon wieder Iris’ Lächeln aus den Augenwinkeln sehen.
Schon wieder Leerlauf. Mist.
Iris lächelt mir zu, legt derweil die Wäsche zusammen. Der Berg teilt sich auf kleinere Hügellandschaft. Sockenhügel, Unterwäschehügel. In der Mitte der Mount Everest der Wäscheberge.

Jeder, der meine Freundin zum ersten Mal sieht, weiß gleich: Iris ist ein fröhlicher Mensch. Das geht jedem so – auch mir. Sie lächelt einfach die ganze Zeit, immer irgendwie glücklich, irgendwie… fröhlich eben. So, dass man gleich denkt, ihr Bild steht im Wörterbuch dabei, wenn man es nachschlägt.
Mit der Zeit habe ich natürlich begriffen, dass diese Fröhlichkeit auch Pausen braucht – doch meistens ist sie tagsüber wie auf Abruf bereit. Das hat mich bereits zu Anfang an ihr fasziniert, vielleicht, weil meine Mitarbeiter sich stets über meine introvertierte Art beklagt haben.

„Weißt du noch, wie wir uns zum ersten Mal begegnet sind?“, stelle ich die unvermittelte Frage, ohne aufzublicken. „Natürlich.“Ich kann Iris beinahe schon lächeln hören. „Im Tropicana. Ich hab’ dich erst gar nicht gesehen, weil du so still in der Ecke rumgelehnt bist mit dem einen Typen – Wie hieß der noch gleich?“
Ich runzele die Stirn, tippe die ersten Worte des Artikels mit hackenden Fingern. „Du meinst Miles?“ – „Genau der!“ Iris lacht. „Ich dachte im ersten Moment, er wäre dein fester Freund oder so…“ – „Der? Ernsthaft?“ Nun ist es an mir zu lachen. „Miles ist mein Cousin, wir haben die Kindheit miteinander verbracht!“
„Das hast du nie erzählt!“, kichernd wirft Iris mir ein Kissen zu. Vielleicht hätte es in meinem Gesicht landen sollen, aber Kissenschlachten waren immer schon so etwas wie mein zweiter Beruf. Achtung, fangen… und – „Bombe!“ Ich lache, einerseits über meinen Ausruf, andererseits darüber, dass ich drei Meter an Iris vorbei geworfen habe. Mit meiner Treffsicherheit ist es leider nicht allzu gut bestellt – deshalb bleiben Kissenschlachten auch bloß zweiter Beruf.
Iris stemmt eine Hand auf die Hüften, weist mit der anderen in Richtung Kissen, das vor dem Kleiderschrank gelandet ist. „Das hebst aber du auf“, bestimmt sie. Der Schalk in ihren Augen straft den bestimmenden Tonfall Lügen. Ich strecke ihr in einem Anfall von Übermut die Zunge heraus. „Wenn ich das nächste Mal daran vorbei komme“, erwidere ich augenzwinkernd.
„Damals im Tropicana bist du mir vielleicht gerade wegen Miles aufgefallen. So ein hässlicher Kerl bei so einer hübschen Frau?, dachte ich.“ Iris’ Lächeln ist unschuldig, wie immer, wenn sie auf ihre beiläufige Art Komplimente verteilt. Ich spüre meine Wangen rot werden – die Hitze kriecht einfach hinein, ich kann nichts tun! Sie lacht leise, und ich hämmere die nächsten zwei Zeilen des Artikels, ohne nachzudenken.
„Du bist mir damals gleich aufgefallen“, gestehe ich, blicke auf, um in zwei grün funkelnde Smaragde zu sehen. Wieder fühle ich meine Wangen glühen. Sie lacht. „Ach ja, da war ja diese Wette mit dem Rock!“, erinnert sie sich an den bunten Zigeunerrock, der klimperte wie ihre vielen Armreife, als sie plötzlich bei mir stand und die Arme um mich legte.

Der Wäsche-Himalaya ist so plötzlich geschrumpft und hat sich in den Apennin der Wäschehügel verwandelt. Er schrumpft immer weiter. Mein Artikel ist noch immer nicht fertig – wie denn auch? Ich habe doch in der vergangenen Stunde beinahe nichts anderes getan als Iris anzustarren. Ihr Lächeln fesselt mich auch nach zwei Jahren immer wieder aufs Neue. Ich mag die kleine Zahnlücke in ihrem Mundwinkel, wenn sie schief grinst.
„Hör auf, Luftlöcher zu starren, Schatz“, höre ich sie sagen. Verdammt, schon wieder werde ich rot.
Ich darf meine Freundin einfach nicht so oft anstarren, befinde ich.
Oder das Anstarren reduzieren – rationieren. Aber Iris in Rationen? Das schaffe ich doch niemals. Ich brauche sie wie die Luft zum Atmen und die Schokolade für die Nerven.
Ich seufze leicht. Schade, dass ich vergessen habe, Schokolade zu kaufen. Davon ist nichts mehr in der Wohnung zu finden, in keinem Winkel.
Ich seufze leicht, reibe mir mit über den rechten Unterarm. Vielleicht schaffe ich es, den Artikel in den nächsten fünfzehn Minuten zu schreiben, wenn ich mich jetzt umdrehe…?

Gesagt, getan. Der Laptop auf meinem Schoß, Iris in meinem Rücken, die Informationen schön aufgelistet vor mir. Scheiße, was habe ich bis jetzt bloß geschrieben? Das ist doch alles bloß… Schwachsinn. Mist.
Also von vorne. Reset-Taste und neu schreiben.
Tatsächlich schaffe ich es, in der folgenden Viertelstunde die Hälfte des Artikels fertig zu stellen. Irgendwo hinter mir höre ich Iris werkeln, und außer ihren leisen Geräuschen und meinem Hacken auf die Tastatur ist es tatsächlich vollkommen still in unserer kleinen Zweizimmerwohnung. Da ist bloß noch das leise Ticken der Standuhr in der Wohnküche. So still ist es selten – wir leben einfach ziemlich laut. Reden, lachen, kichern, glucksen, streiten und uns versöhnen; unser Leben ist ziemlich fröhlich, glaube ich. Zumindest normalerweise.

Plötzlich schlingen sich zwei Arme von hinten um mich, ich fühle weiche Lippen in meinem Nacken. „Weißt du was?“ Grün funkelnde Augen mustern mich, und wieder sind alle Tatsachen für den Artikel aus meinem Kopf gelöscht. Reset-Taste.
Da sind bloß Iris’ berauschende Lippen auf meinen. Keine Reset-Taste für diesen Moment.
Ich will keine Reset-Taste für mein Leben haben, dazu gefällt mir dieser real gewordene Traum zu sehr.
„Du machst diesen doofen Artikel fertig“, ihre Ausdrucksweise zaubert ein Lächeln auf meine Lippen, „und ich gehe uns jetzt einen schönen, heißen Kakao machen und dann schauen wir uns zusammen wieder mal Dirty Dancing an…“, höre ich sie sagen, und schneller, als ich schauen kann, ist sie aus dem Raum verschwunden. Ich höre sie in der Küche klappern und dabei irgendein Lied summen.

Endlich, der Artikel ist fertig und auch schon an meinen Chef abgeschickt – ich lege die Hände in den Schoß, seufze erleichtert auf. Und wie aufs Stichwort ist Iris wieder im Raum. Sie bringt den Duft von heißer Schokolade mit sich.
Sie lacht, als ich sie küsse. Ich liebe diese vollen, schönen Lippen, die mich um den Verstand bringen, seit ich sie zum ersten Mal gekostet habe.

Jeder, der Iris zum ersten Mal sieht, weiß gleich: Sie ist ein fröhlicher Mensch. Mir ging es genauso.
Manchmal aber wird Iris auch ganz still und nachdenklich. Ich weiß nicht, woran sie denkt – ich glaube, ich will es auch gar nicht wissen. Obwohl… ich würde sie immer gleich gern haben wie jetzt. Ich kann gar nicht anders.
Wenn Iris so in ihren Gedanken versinkt, fühle ich mich immer vollkommen hilflos. Weil ich ihr nicht beistehen kann, wenn sie sich in ihren Kopf verzeiht.

„Hast du ihren BH gesehen?“ Iris lacht, deutet auf Baby, die über den Fernseher tanzt, und erzählt weiter: „So einen BH hat meine Oma immer getragen!“ Ich murre leicht, schmiege mich schläfrig an ihre Schulter. „Ich hab’ bis heute immer geglaubt, Baby hätte keinen anderen Namen…“, murmle ich grinsend. Ich hebe den Kopf, und Iris’ Blick begegnet meinem. Wir brechen in Gelächter aus – eigentlich mögen wir beide Dirty Dancing nicht. Trotzdem sehen wir ihn uns jedes Mal, wenn er im Fernsehen kommt, gemeinsam an.
Meine schöne Freundin nippt an ihrer heißen Schokolade, lehnt sich wohlig in die Couch zurück und unterdrückt ein Gähnen.

Wenn man Iris zum ersten Mal begegnet, weiß man eines: Sie ist ein fröhlicher Mensch. Ich habe dasselbe geglaubt, bis ich zum ersten Mal bei ihr übernachtet habe. Es war spät, wir hatten beide etwas zu viel getrunken und… nun, wir hatten getan, was normalerweise auch Mann und Frau tun, die sich gern haben. Ich bin einfach liegen geblieben in ihrem bequemen Doppelbett mit den vielen Kissen, und bald eingeschlafen.
Wenn man Iris zum ersten Mal begegnet, weiß man gleich, sie ist ein fröhlicher Mensch. Die Fröhlichkeit ist den ganzen Tag über abrufbar. Aber in der Nacht kommen die Schatten, die das strahlende Lächeln tagsüber vertreibt.
Ich habe sie flehen hören in jener Nacht und in noch vielen anderen Nächten, die später gekommen sind. Jedes Mal fleht sie darum, endlich aus ihrem Albtraum erwachen zu können. Ich weiß nicht, was sie träumt. Aber jedes Mal schmiege ich mich an sie und halte Iris ganz fest, damit sie keine Angst mehr hat.

Ich spüre Lippen, die nach Schokolade schmecken, auf meinen. Iris’ Lippen, auf denen wieder einmal ein sachtes Lächeln liegt. Iris lehnt sich an mich, nachdem wir den Kuss gelöst haben, blickt mich von unten her an. „Hör auf, Luftlöcher zu starren“, lächelt sie sanft. Ich grinse. Vielleicht sollte ich das wirklich lassen…

Text: Wortklauberin Erika
Illustration: Federschreiberin Kristina

 

Ein Beitrag zum Special #Kunterbunt.
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