Lieder für alle

von | 14.06.2019 | #BKmusikalisch, Kreativlabor, Specials

 

In keiner Gattung treffen Literatur und Musik so unmittelbar aufeinander wie im Kunstlied. Auf der einen Seite das Gedicht, auf der anderen die Vertonung, die in irgendeiner Form auf den Text reagiert. Es ist eine wechselseitige Beziehung, ein Spagat zwischen Textverständlichkeit und Musikalität. Das Kunstlied, das ist kein Geheimnis, hat es nicht unbedingt leicht. Bei den großen Komponisten der Romantik, Franz Schubert oder Robert Schumann etwa, fragt sich womöglich der ein oder andere, wie aktuell ihre Lieder, denen Lyrik von Heine, Eichendorff und Co. zugrunde liegt, heute noch sind. – Von Stadtbesucher Jesper Klein

Warum ist das Lied selbst in der Klassikwelt ein vermeintliches Stiefkind? Vielleicht, weil es so intim ist. Das Kunstlied macht nicht über große Besetzungen und Klangfülle auf sich aufmerksam, abgesehen vom Klavier gibt es üblicherweise keine anderen Instrumente. Vielleicht auch, weil es in unserer beschleunigten, digitalisierten Welt ein wenig old-fashioned erscheint, die schöne Natur, Bäche, Wälder, Wiesen und Felder zu besingen. Ist das nicht alles ein bisschen verkünstelt und nicht mehr gegenwärtig?

Kann schon sein. Die Seelenlandschaften in Schuberts „Winterreise“ zu ergründen, ist heute allerdings nicht weniger spannend als gestern. Und sind Themen wie Liebe und Abschied nicht ohnehin überzeitlich? Wer knapp 200 Jahre zurückreist und sich auf die Sprache des Kunstliedes einlässt, kann an dieser komprimierten Form von Musik seine Sinne schärfen.

Natürlich ist das Lied nicht vergangen oder gar tot, es lebt an verschiedenen Orten auf verschiedene Weisen weiter; es wird gepflegt, beschützt und gehütet, ohne dass es die ganz großen Menschenmassen anlockt. Da wäre zum Beispiel Heidelberg, eine heimliche Liedstadt, in der einst wichtige Liedkomponisten der Romantik ein und aus gingen; im Jahr 2016 wurde hier ein Liedzentrum gegründet. Zudem gibt es einen internationalen Liedwettbewerb und das Festival „Neuland.Lied“ vom Heidelberger Frühling widmete sich in diesem Jahr dem politischen Lied.

Natürlich schreiben Komponisten auch heute noch Lieder. Beim Kissinger Sommer wird in der Liederwerkstatt jedes Jahr die Fahne für das zeitgenössische Lied hochgehalten, abseits vom Klassik-Mainstream. Das Lied lebt also, selbstverständlich. Vielleicht lockt es nicht vorrangig das junge Publikum ins Konzert, aber ist es zwischen vermeintlich altmodisch und retro nicht ohnehin ein schmaler Grat? Die Säle kann das Lied durchaus füllen, wie zuletzt Christian Gerhaher und Gerold Huber bei den Badenweiler Musiktagen bewiesen. Sie zählen zu den wichtigsten Liedinterpreten der Gegenwart und nehmen momentan sämtliche Lieder Robert Schumanns auf CD auf. Ein Großprojekt!

Fasst man den Liedbegriff weiter und bezieht die populäre Musik mit ein, erreicht das Lied zweifellos bereits die breite Masse, in der Popmusik konnte sich keine andere Gattung etablieren. Und der Eurovision Song Contest ist schließlich auch nichts anderes ist als ein Liedwettbewerb – aber das ist nun wirklich eine ganz andere Geschichte.

Jesper Klein (*1994) studiert in Heidelberg Musikwissenschaft und schreibt als freier Autor über Musik. Unter anderem im Feuilleton der Frankfurter Allgemeinen Zeitung, in der Zeitschrift Opernwelt, für das Musikjournalistenkollektiv niusic.de und für die Rhein-Neckar-Zeitung.

[tds_note]Ein Beitrag zum Special #BKmusikalisch. Hier findet ihr alle Beiträge.[/tds_note]
Illustration: Worteweberin Annika
Bücherstadt Magazin

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