Liebeskummer par excellence

von | 05.12.2020 | Auditorium, Hörspiele

Jane Austen zelebriert in „Verstand und Gefühl“ den Liebeskummer und lässt zwei Schwestern aufeinander treffen, die unterschiedlicher nicht über die Liebe denken könnten. Wie sich der Klassiker von 1795 (veröffentlicht 1811) als modernes Hörspiel macht, hat Worteweberin Annika herausgefunden.

Henry Dashwood hinterlässt nach seinem Tod Grund und Besitz seinem Sohn aus erster Ehe, John. Zwar ringt er ihm das Versprechen ab, für die drei Halbschwestern Elinor, Marianne und Margaret sowie deren Mutter zu sorgen, aber schnell sind John und seine Frau Fanny sich einig: Die Dashwood-Frauen sollten eher ihnen noch etwas abgeben und brauchen ganz sicher keine Unterstützung. Das Familiengut Norland Park müssen sie verlassen und finden ein kleines Landhaus in Devonshire.

Zwei Schwestern

Kurz vor dem Umzug knüpft Elinor ein zartes Band zu Fannys Bruder, Edward Ferrars. Doch über seine Gefühle kann sie sich nicht sicher sein, zumal sie selbst nie den Ansprüchen seiner Mutter gerecht werden könnte. Dennoch denkt sie in ihrem neuen Leben in Barton Cottage noch wehmütig zurück an Edward. Schließlich taucht Lucy Steele auf und macht Elinors leisen Hoffnungen endgültig zunichte: Seit Jahren ist sie mit Edward verlobt, erzählt sie. Elinor schluckt die bittere Pille, trägt den Liebeskummer besonnen und nach außen unberührt.

Die Gefühle der zweiten erwachsenen Schwester Marianne sind ungleich überbordender: Sie träumt von Leidenschaft, Authentizität, Abenteuer und findet all das in John Willoughby. Schnell sind die beiden unzertrennlich, doch dann reist Willoughby überstürzt aus Barton ab. Ob er Marianne heiraten wird? In London hofft sie auf ein Wiedersehen, doch hier warten weitere Enttäuschungen. Beiden Schwestern muss erst kräftig das Herz gebrochen werden, bevor sie ihr Glück finden können.

Missverständnisse und Herzschmerz

Elinor liebt Edward Ferrars, Marianne liebt Mr. Willoughby, Oberst Brandon liebt Marianne und Lucy Steele liebt Edward ebenfalls. Klingt so kompliziert wie das echte Leben. Naja, oder wie das echte Leben Ende des 18. Jahrhunderts zumindest, als man für eine „private Korrespondenz“ noch verlobt sein musste, höchstens verklausuliert miteinander sprach und Missverständnisse daher praktisch vorprogrammiert waren. Aus heutiger Sicht scheint manches, was Austen beschreibt, fast unglaubwürdig.

„Verstand und Gefühl“ ist wie alle Austen-Romane sicherlich nicht jedermanns Sache, denn auch wenn der Titel schon nahelegt, dass hier Verstand und Gefühl ausgespielt werden, geht es hauptsächlich um Herzensdinge. Nebenbei werden Austens Zeitgenossen aber treffend beschrieben. Hier beweist die Autorin eine gute Beobachtungsgabe und feine Ironie, die auch heute noch funktioniert. Austens Roman, der früher im Deutschen noch als „Sinn und Sinnlichkeit“ übersetzt wurde, hat sich seinen Platz unter den Klassikern verdient.

Ein „Wie-kann-man-nur! auf zwei Beinen“?

Sehr erhellend ist der im Booklet enthaltene Beitrag von Denis Scheck zu „Verstand und Gefühl“. Der Literaturkritiker mit dem Einstecktuch geht auf Jane Austens (eher langweilige?) Biografie ein, kommentiert den Forschungsstand zu „Verstand und Gefühl“ und erörtert, ob man Austen als unpolitische Autorin, als „Wie-kann-man-nur! auf zwei Beinen“ bezeichnen sollte; immerhin tobte gerade die Französische Revolution, Europa veränderte sich komplett, als Jane Austen ihre ersten drei Romane schrieb und kein Wort darüber verlor.

„Jane Austen berührt das nicht. Sie ist ihre eigene Zeit. Zeitgenossin von niemandem.“ (Denis Scheck)

Auch wenn Napoleon für Austen möglicherweise wirklich nur der Grund für die fehlenden aussichtsreichen Heiratskandidaten auf dem englischen Land war, wie John Updike formulierte, ist sie für Scheck doch gerade deswegen auch politisch: als Spiegel ihrer Zeit, als treffende Beobachterin. Scheck lobt ganz besonders die Szene, in der John und Fanny Dashwood das Erbe der Dashwood-Frauen auf aberwitzige Weise kleinreden, die auch im Hörspiel sehr gewitzt daherkommt. Schecks Anmerkungen wiederum sind eine große Bereicherung des Booklets.

Wie klingt das 18. Jahrhundert?

Alexander Schumacher setzt in seiner Hörspielbearbeitung auf sich abwechselnde Ich-Erzählerinnen und -Erzähler statt wie Austens Romantext auf eine auktoriale Erzählung. So kommen die beiden erwachsenen Dashwood-Schwestern und die Mutter abwechselnd zu Wort – teilweise wechselt die Perspektive bei jedem Satz. Nachdem man sich in dieser Erzählweise zurechtgefunden hat und die Stimmen zuordnen kann, wird die Erzählung dadurch direkter und lädt zum Mitfühlen ein.

Der unterschiedliche Wissensstand (Sind sie nun verlobt oder sind sie es nicht?) wird bemerkenswerter Weise auch in diesem Modus nicht zum Problem. Die dritte Dashwood-Schwester Margaret hat im Hörspiel nur kurze Auftritte und spielt praktisch keine Rolle. Wer wie ich noch die Verfilmung von 1995 mit Emma Thompson, Kate Winslet und Hugh Grant vor Augen hat, wird das übermütige Kind vielleicht etwas vermissen.

„Verstand und Gefühl“ ist nach „Stolz und Vorurteil“ und „Northanger Abbey“ das dritte Austen-Hörspiel im Hörverlag. Mit Johanna Gastdorf (Mary Dashwood), Birte Schnöik (Elinor Dashwood), Ulrich Noethen (Oberst Brandon) oder Franziska Troegner (Mrs Jennins) sind viele erfahrene Sprecherinnen und Sprecher am Hörspiel beteiligt, die stimmlich gut mit ihren Rollen harmonieren. Die Musik stammt von der Instant Music Factory. Auf Klarinette, Gitarre und Kontrabass zaubern die drei Musiker zarte Klänge, die zwar gut zur dargestellten Zeit passen, trotzdem aber nicht eingestaubt, sondern ungewöhnlich klingen.

„Verstand und Gefühl“ ist auch im Hörspiel eine Freude. Durch Schumachers Bearbeitung ersetzt das Hören nicht das Lesen. Die Sprecherinnen und Sprecher und die Musik entführen aber so charmant ins 18. Jahrhundert, dass das Hörspiel eine gute Auffrischung oder Einstimmung auf Austens Romanwelt ist. Auch wenn man sich gerade selbst nicht im Liebeskummer suhlt, ist „Verstand und Gefühl“ sehr hörenswert!

Verstand und Gefühl. Jane Austen. Aus dem Englischen von Ursula und Christian Grawe. Regie und Hörspielbearbeitung: Alexander Schumacher. Mit Johanna Gastdorf, Birte Schnöik, Leonie Rainer u.a. Der Hörverlag. 2020.

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