Liebe vertreibt die Kriegskälte

von | 12.10.2014 | Belletristik, Buchpranger

Eine russische Winterlandschaft in der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts. Es ist triste, kalt und Farben lassen sich nur in Grauabstufungen benennen. Eine kurze Novelle eines unbekannten Russen, doch eine zarte Liebesgeschichte, die in der Einfachheit und Anonymität ihres Umfelds Feuer im Herzen des Lesers schürt.

„Alles wird zu einer Abstraktion, wenn die Handlung ohne Kulisse erfolgt.“

Der Ich-Erzähler, Offizier, fährt in einem Lazarettzug mit Ärzten und Krankenschwestern von einem zum anderen unbestimmten Ort, liest Goethe und verliebt sich unerwartet in die blutjunge, leichtlebige Krankenschwester Vera. Zeit und Ort bleiben dem Leser vorenthalten und scheinen auch unwichtig – irgendwie. Es herrscht Krieg. Doch die Stimmung im Zug wirkt abgeschirmt, dem Umfeld enthoben. Der belesene Offizier, dem 18. Jahrhundert verfallen, beobachtet. Er projiziert das Bildnis der französischen Manon Lescaut aus dem gleichnamigen Roman von Abbé Prévost auf Vera, umgarnt sie mit einer Galanterie, die ihr den Kopf verdreht.

„Nein, man muss allein mit sich selbst sterben und mit der letzten Willensanstrengung die Form des Geistes bewahren, bis er selbst erstarkt in seinem neuen Schicksal.“

Geplagt von Erstickungsanfällen, ans Bett gefesselt, gibt sich der sensible Ich-Erzähler seiner deutschen Lektüre hin, um stets mit den Gedanken philosophische Erkundungsflüge zu wagen, distanziert sich dabei vom Bild des kraftvollen, proletarischen Kriegshelden. In Turdej – dem einzigen Ort in dieser kurzen Novelle – macht der Lazarettzug Halt und das Liebespaar kommt sich näher.

„Der Mensch existiert nicht, solange er sich nicht im Spiegel gesehen hat.“

Vera liebt. Vera liebt viel. Doch entdeckt sie im Laufe ihrer Romanze mit dem Offizier, dass sie niemals zuvor so sehr geliebt hat – hat sie in ihrem flüchtigen Dasein ohne sicheren Halt je wirklich lieben können? Sie trotzen dem Gerede im Zug, bilden einen Kontrast zur Kriegskälte, bringen Farbe ins Geschehen.

„Ich hatte Angst, einzuatmen und diese Stille zu durchstoßen.“

Petrow erschafft in der grauen Kriegslandschaft eine Liebe, die dank der poetisch, filigranen und dennoch geschickten Erzählweise sanft wie eine Feder schwebt, alles berührt, Aufmerksamkeit erregt – doch sich je nach Windstoß neu orientiert: überraschend tragisch. Jahrzehntelang lag diese – im wahrsten Sinne des Wortes – zauberhafte Geschichte in der Schublade des Autors, regelmäßig ausschnittsweise öffentlich vorgetragen, doch nie veröffentlicht. 2006 in einer russischen Literaturzeitschrift erschienen, sorgte sie für Furore.
Tatsächlich fällt es schwer Worte zu finden, man fragt sich: Wie konnte der Autor auf so wenigen Seiten eine derart wunderschöne, zarte Welt erschaffen? Man hört den pfeifenden Wind aus jeder Seite heraus, spürt den knackenden Ofen, schmeckt die sanften Küsse. Stille erhält eine neue Bedeutung und wird zum Inbegriff von Glück in dieser grauen Zeit. Eine Stille, die wahrhaftig berührt!

Nicole
urwort.com

Die Manon Lescaut von Turdej, Wsewolod Petrow, Daniel Jurjew (Übersetzer), Weidle Verlag, 2012
Ein Beitrag zum Leseprojekt „Russische Literatur“.

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