Krakonos: Gestaltwandler in einer „hochtechnisierten Welt“

von | 18.09.2018 | Buchpranger, Kinder- und Jugendbücher

Wieland Freunds „Krakonos“ wurde nicht nur mit dem diesjährigen Leipziger Lesekompass ausgezeichnet, sondern auch für den Deutschen Jugendliteraturpreis nominiert. Folglich hatte Zeichensetzerin Alexa große Erwartungen, die allerdings nicht ganz erfüllt werden konnten.

„Das Meer rauschte. Die große LED-Kugel an der Decke tauchte den Saal in ein schwaches wasserblaues Licht. Nik kam es vor, als läge er auf dem Grund des Ozeans. Er war wie ein Fisch im Aquarium hinter dem Glas eines Touchscreens.“ (S. 8)

Diese ersten Sätze beschreiben sehr bildlich, wie es den Protagonisten Nik und Levi in Wieland Freunds Kinderbuch „Krakonos“ ergeht. Da ihre Eltern für den IT-Konzern Qwip.com arbeiten, wachsen die Brüder in der Academy auf. Dass sie dort unglücklich sind, wird besonders durch Levis Verhalten sichtbar: Statt sich wie andere mit Programmieren und anderen Technik-Dingen zu befassen, beschäftigt er sich lieber mit Tieren und der Natur. Auch er scheint gefangen zu sein „wie ein Fisch im Aquarium hinter dem Glas eines Touchscreens.“

Aber dann geschieht etwas Seltsames: Als Levi auf dem Gelände des Konzerns einen Raben entdeckt und ihm folgt, begegnet er „Riebe“. Es stellt sich heraus, dass es sich bei dem Fremden um einen Gestaltwandler handelt, einen Berggeist vom Riesengebirge, der auch „Krakonos“ oder „Rübezahl“ genannt wird. Da er als gefährlich gilt, will ihn der SEK töten. So geraten auch Nik und Levi bei ihrer gemeinsamen Flucht in Gefahr.

Kinderwelt – Erwachsenenwelt

Erzählt wird die Geschichte um Riebe und die beiden Brüder aus zwei Perspektiven: einerseits aus der Sicht der Kinder und andererseits aus der einer Studentin namens Emma O’Lynn. Diese befindet sich am Ende ihres Studiums der Mythobiologie. Ihre Faszination für innerirdische Wesen – und insbesondere für den Berggeist Krakonos – ist der Grund dafür, dass sie Riebe vor dem SEK schützen will. Sie tut alles in ihrer Macht stehende, um ihn und die Kinder zu retten.

Damit offenbart das Kinderbuch zwei Welten, die gegensätzlich scheinen. Die naiv-hoffnungsvolle Kinderwelt steht – mit Ausnahme von Emma – der gewaltvollen Erwachsenenwelt gegenüber. Dass die Brücke zwischen diesen Welten die einzige im Roman vorkommende Frau bildet, kann bedeutungslos sein, in dieser Figurenkonstellation aber auch klischeehaft erscheinen: So wirkt es, als sei nur eine Frau emotional-sozial in der Lage, um diese Position einzunehmen, mit den sich auf der Flucht befindenden Kindern einen guten Draht aufzubauen etc. Die Macht, die Männer in dieser Welt ausüben, wird spätestens dann spürbar, als Emma mit ihrer Geheimniskrämerei hinsichtlich des Kontakts zu den Kindern auffliegt. Diesen Verrat bestraft der SEK wiederum mit erzwungenem Verrat: Als Vertrauensperson soll Emma Riebe und die Kinder in eine Falle locken …

Mythobiologie, Natur und Technologie

Die „Mythobiologie“ ist zwar frei erfunden, das in diesem Werk dargestellte Verhältnis zwischen Natur und Technologie erscheint jedoch realitätsnah. Die „hochtechnisierte“ Welt, wie sie beschrieben wird, erinnert an gegenwärtige technologische Entwicklungen: Der Konzern Qwip.com kann als Verweis auf bspw. Google und facebook fungieren, sogenannte „Qwips“ als Messenger-Nachrichten etc. Wenngleich der Autor – laut Nachwort – keinerlei Verweise auf Internetunternehmen beabsichtigt hat, so werden die fiktiven und realen Lebenswelten beim Lesen automatisch verknüpft.

Den Mythos um den Berggeist Rübezahl inmitten des Spannungsfeldes zwischen Natur und Technologie zu platzieren, ist ein gelungener Schachzug. Krakonos hat die wenige Natur, die es in dieser Welt noch gibt, auf seiner Seite und schafft es gleichzeitig, sich als Gestaltwandler der Technologie der Menschen zu entziehen. Seine geheimnisvolle Erscheinung ist dabei faszinierend und enttäuschend zugleich: Wünschenswert wären beim Lesen vertiefende Informationen und Hintergrundwissen gewesen. Hierfür hätte sich Emma in ihrer Rolle als vermittelnde Forscherin gut geeignet.

Lesenswert?

„Krakonos“ braucht eine Weile, um seine Stärken zu entfalten. Zeitweilig wirkt die Handlung aufgrund des Perspektivwechsels hinausgezögert. Bestimmte, geschilderte Situationen, die beispielsweise den (beruflichen) Alltag von Erwachsenen darstellen, scheinen belanglos für eine Geschichte, die für Kinder ab 11 Jahren geschrieben wurde.

Nichtsdestotrotz ist „Krakonos“ aufgrund spannender, mythischer Elemente (und einem überaus ansprechenden Cover von Hans Baltzer) ein lesenswertes Werk, das zum Nachdenken anregen kann, aber keines, das man unbedingt gelesen haben muss.

Krakonos. Wieland Freund. Beltz & Gelberg. 2017.

 

Bücherstadt Magazin

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