Kommt nach der Dystopie die feministische Farm-Idylle?

von | 13.05.2021 | Belletristik, Buchpranger

Nach einer Klimakatastrophe stürzt England in ein autoritäres System ab, das die Menschen unterdrückt. Eine Frau flieht – denn einen Ort soll es geben, an dem Frauen sich der Unterdrückung entziehen. Bücherstädterin Vera hat Sarah Halls Roman gelesen, der wie ein moderner Kommentar auf „Der Report der Magd” daherkommt, aber hinter den Erwartungen zurückbleibt.

„Jeder Schritt brachte mich weiter aus der Stadt hinaus und näher an meine eigenen Grenzen.” (S. 21)

Die namenlose Protagonistin erträgt das System nicht mehr, in dem sie lebt. Unterdrückt von der Obrigkeit, zwangssterilisiert und zur Zwangsarbeit verpflichtet, klammert sie sich an die Hoffnung, dass es irgendwo im Norden Englands einen Zufluchtsort für Frauen wie sie gibt: Carhullan, eine autark von Frauen bewirtschaftete Farm. Doch der Ort ist nicht die Idylle, die sich „Schwester”, wie sie sich nun nennt, erhofft hat: Der Empfang ist unsanft und das Leben hart. Und auch wenn von der Anführerin Jackie eine große Faszination ausgeht und sie Schwesters Weltbild auf den Kopf stellt, enthüllt sich immer mehr Jackies wahrer Plan, die Obrigkeit mit größter Gewalt zu vernichten. Ist das wirklich der Weg zur Befreiung?

„Man kann sich nicht vorstellen, dass die Welt tatsächlich zu Schaden kommen kann, dass während der eigenen Lebenszeit irgendeine echte Katastrophe eintreten wird.” (S. 12)

„Die Töchter des Nordens” ist keine leichte Kost, stellt Bücherstädterin Vera schnell fest. Nicht nur ist das Szenario, dass nach einer Klimakatastrophe die Demokratie zusammenbricht, erschreckend realistisch. Auch der schleichende Abstieg von Hoffnung zu Gewalt und Extremismus macht die Lektüre zu einer Herausforderung.

Das Grundmotiv des Romans ist Befreiung. Wie kann sie in der Hoffnungs- und Machtlosigkeit gelingen, vor allem, wenn man selbst zu einer marginalisierten Gruppe gehört? Die Hoffnung der Protagonistin, dass auf der Farm alles besser wird, entpuppt sich schnell als Fantasie. Denn inmitten der Dystopie entwirft die Autorin keine feministische Utopie. Carhullan ist kein Paradies, wie Schwester schnell feststellt. Alles zum Leben Notwendige wird dem Boden unter großer Anstrengung abgewonnen, es gibt Krankheiten, Streit, Gewalt. Dennoch glaubt Schwester an Jackie, die die Frauen zu einer Armee ausbilden will. Und Jackie glaubt daran, dass nur durch Krieg Emanzipation und Empowerment gelingen kann: „Schwester, wie schlimm muss es um eine Frau stehen, bevor sie zurückschlägt, nicht um sich zu verteidigen, sondern weil es sich […] zu kämpfen lohnt?” (S. 145)

Aber das wirft die Frage auf, ob Befreiung mit Hilfe von Folter, Extremismus und Terrorismus wirklich der richtige Weg ist. Gibt es einen Unterschied dazwischen, sich selbst zu befreien und andere zu befreien, die man für Sklavinnen eines ungerechten Systems hält? Ist es Befreiung, die Unterdrückung umzukehren und Männer als dienende Klasse außerhalb der Farm unterzubringen? Ist es Befreiung, wenn nur Stärke, Härte und Abgestumpftheit etwas zählen, während Schwäche verhöhnt wird?

Doch es gibt nicht nur diese Seite. Die Schwesternschaft und der erhoffte Zusammenhalt gibt es auf der Farm genauso: Schwester gelingt es, nicht nur ihr Leben neu zu ordnen, sondern auch ihr Lieben und Begehren in Carhullan neu zu entdecken. So lotet Hall die moralischen Grauzonen geschickt aus.

„Wenn ich die Farm einmal erreicht hätte, würde alles besser werde. Dafür würden die Frauen schon sorgen.” (S. 23)

Trotzdem schwingt im Roman ein angestaubter, rückwärtsgewandter Feminismus mit, der eher an die 1970er als die 2000er erinnert. Es fühlt sich zudem an, als wäre die Sprache bewusst um der Schockwirkung willen vulgär und abgestumpft: Das N-Wort und sexistische Beleidigungen lassen schlucken, auch wenn sie den abgehärteten Grundton des Romans unterstreichen. Tatsächlich erklärt sich der Eindruck dadurch, dass das Buch erstmals 2007 auf Englisch erschien: Viele Motive und Debatten zu Feminismen und Rassismus, die heutzutage allgegenwärtig sind, waren noch nicht (so) präsent.

Daher fühlen sich die Botschaften leider pessimistisch an, nicht nur, was den Zusammenbruch durch den Klimawandel angeht, sondern auch der mitschwingende Antifeminismus. Alles in allem ist „Die Töchter des Nordens” ein harter Roman, dessen beschriebene Grausamkeiten nicht dieselbe Faszination zu entwickeln vermag, wie es zum Beispiel „Der Report der Magd” von Margaret Atwood konnte.

Die Töchter des Nordens. Sarah Hall. Aus dem Englischen von Sophia Lindsey. Penguin. 2021.

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