„Kindern mehr zutrauen“: Familien als Teams

von | 05.05.2022 | Buchpranger, Sach- und Fachbücher

Der Alltag mit Kindern fühlt sich manchmal an wie ein Kampf. Das erlebte Autorin Michaeleen Doucleff und präsentiert im Sachbuch „Kindern mehr zutrauen“ eine Erziehungsmethode, die helfen soll. Worteweberin Annika war neugierig.

In „Kindern mehr zutrauen“ hat Michaeleen Doucleff ein spannendes Experiment gewagt: Mit ihrer Tochter Rosy ist sie zu verschiedenen indigenen Völkern – den Maya, den Inuit und den Hadza in Tansania – gereist, um zu lernen, wie Familien dort leben. Warum? Rosys und Michaeleens Beziehung war vor diesem Experiment … kompliziert. Viele Wutausbrüche auf beiden Seiten, viel Streit und wenig Freude am gemeinsamen Tun prägten ihren Umgang. In ihrem Sachbuch „Kindern mehr zutrauen“ erzählt die Autorin, wie die Reisen ihren Blick auf Erziehung und Familie verändert haben und wie man mit Hilfe der TEAM-Erziehung Kinder selbstbewusster, freundlicher, ausgeglichener und hilfsbereiter machen kann.

Weniger schreien …

Michaeleen Doucleff ist keine Pädagogin, sondern studierte Chemikerin und arbeitet als Journalistin. In Sachen Erziehung hat sie also auch nicht mehr Ahnung als ich oder andere „normale“ Mütter. Gleichzeitig merkt man, dass sie aus Amerika kommt und der Umgang mit Kindern dort anders zu sein scheint als bei uns. Schreien und autoritäre Erziehung, so stellt es Doucleff jedenfalls dar, sind dort Gang und Gäbe und mindestens im Fall Rosy nicht der Schlüssel zu einer harmonischen Beziehung und einem glücklichen Kind. Wer schon etwas Literatur zum Thema bedürfnisorientierte Erziehung gelesen hat, dürfte davon nicht überrascht sein – offensichtlich ist der deutsche Buchmarkt hier aber anders organisiert als der in den USA. So würde man in einem deutschen Erziehungsratgeber aus dem Jahr 2022 vermutlich auch nicht darüber schreiben, Fehlverhalten „an der Wurzel auszurotten“ (S. 15). Zum Glück sind die Methoden dafür weniger brachial, als die Formulierung vermuten lässt.

Doch auch, wenn mich einige der Ansätze im Buch nicht überrascht oder überzeugt haben, konnte ich aus „Kindern mehr zutrauen“ einiges mitnehmen. Bei uns zu Hause gibt es sie ebenfalls zu Hauf: die Wut, den Frust, die Diskussionen beim Anziehen, Ausziehen, Essen, Ins-Bett-Gehen …

„Vor allem konzentriert sich unsere Kultur fast ausschließlich auf einen Aspekt der Eltern-Kind-Beziehung: die Kontrolle. Darauf, wie viel Kontrolle die Eltern über das Kind ausüben, und darauf, wie viel Kontrolle das Kind über die Eltern auszuüben versucht. […] Sehen wir Erziehung so, kommen wir nicht ohne Machtkämpfe, Streit, Schreien und Tränen aus.“ (S. 19)

… öfter warten

Bei den Maya, den Inuit und den Hadza lernen wir eine Erziehung kennen, die auf Teamwork, Ermutigung (statt Zwang), Autonomie und minimales Eingreifen setzt – Michaeleen Doucleff nennt das die TEAM-Erziehung. Grob gesagt schlägt dieser Ansatz vor, mehr Ruhe in den Familienalltag zu bringen: das Kind nicht ständig zu bespaßen, sondern den eigenen Aufgaben nachzugehen und Kinder dazu einzuladen, am Kartoffelnwaschen, Fegen oder Umgraben teilzunehmen, mit ihren Stärken und Schwächen. Manchmal reiche es aus, einfach abzuwarten und die Kinder machen zu lassen, statt alles kontrollieren zu wollen.

Ein spannendes Experiment, das die Autorin anregt, ist zum Beispiel, die Anweisungen und Fragen zu zählen, die man innerhalb einer Stunde an den Nachwuchs richtet („Was machst du gerade?“, „Komm da herunter!“, „Nein, das geht gerade nicht, lass uns lieber damit spielen!“) und sie auf drei Stück pro Stunde zu reduzieren – und zwar bestenfalls auf solche, die den Kleinen Werte vermitteln, statt sie in ihrer Autonomie zu bremsen. Denn oft reichen Blicke, Routinen oder das Vormachen aus, um zu bestimmtem Verhalten zu animieren.

„Wir können gelassener mit dem Verhalten unserer Kinder umgehen und unsere Vorstellung dessen, was man als guter Vater oder gute Mutter tun sollte, überdenken. Wir können darauf vertrauen, dass die Kinder besser wissen, was sie zum Wachsen und Lernen brauchen.“ (S. 348)

Praktischer Alltagsbegleiter

Das Sachbuch besteht aus sehr anschaulichen Passagen, in denen der Alltag in den verschiedenen Familien beschrieben oder Situationen aus Rosys und Michaeleens Leben dargestellt werden. Man merkt, wie eindrücklich ihre Erfahrungen auf den Reisen gewesen sein müssen – nicht zuletzt daran, dass diese Abschnitte teils leicht pathetisch daherkommen. Darüber kann man aber hinwegsehen, oder eben hinwegblättern und sich den „handfesten“ Kapiteln zuwenden.

Die Autorin stellt viele konkrete Werkzeuge vor, zum Beispiel für Wutanfälle oder Gefahrensituationen und zeigt in Beispielen, wie diese Werkzeuge in den indigenen Kulturen, aber auch im Westen angewendet werden können. Es gibt nach den Kapiteln hilfreiche Zusammenfassungen und Aufgaben, die man ausprobieren kann. Natürlich ist es mit „Kindern mehr zutrauen“ so wie mit jedem Erziehungsratgeber: Nicht alle Werkzeuge und Ideen passen zu jedem Kind, zu jeder Familie und zu jeder Situation. Doch was wir bisher für uns übernommen haben, funktioniert gut – beispielsweise das Erziehen mit Geschichten.

Wer auf der Suche nach einem neuen Blickwinkel auf den Umgang mit Kindern ist, könnte mit „Kindern mehr zutrauen“ genau den richtigen Erziehungsratgeber finden. Das Buch ist für Eltern kein Muss, aber ein praktischer Begleiter im Familienalltag.

Kindern mehr zutrauen. Erziehungsgeheimnisse indigener Kulturen. Stressfrei – gelassen – liebevoll. Michaeleen Doucleff. Aus dem Englischen von Ulrike Kretschmer. Kösel. 2021.

Annika Depping

Annika Depping

Als Chefredakteurin versucht Annika in der Bücherstadt den Überblick zu behalten, was mit der Nase zwischen zwei Buchdeckeln, zwei Kindern um die Füße und dem wuchernden Grün des Kleingartens im Nacken nicht immer einfach ist. Außerhalb der Bücherstadt ist Annika am Literaturhaus Bremen mit verschiedenen Projekten ebenfalls in der Welt der Geschichten unterwegs.

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