Kennt man einen Menschen je wirklich?

von | 17.10.2014 | Belletristik, Buchpranger

Es gibt Krimis, bei denen der Mord nur die Kulisse für einen exzentrischen Ermittler ist. Und es gibt Krimis wie „Broadchurch“. Kelly und Chibnall haben in der Romanfassung des britischen TV-Hits die emotionale Zerstörungskraft eingefangen, die sich erst nach dem eigentlichen Verbrechen entwickelt. – Von Buchstaplerin Maike

„Niemand kommt rein nach Broadchurch, und niemand kommt raus.“

Broadchurch an der Südküste Englands: Eine Kleinstadt, die vom Tourismus lebt und in der sich die Bewohner kennen. Oder besser zu kennen glauben. Denn eines Morgens liegt am Strand die Leiche des elfjährigen Danny Latimer. DI Alec Hardy, ein neuer Polizist in der Stadt, muss herausfinden, wer aus der Gemeinde ihn umgebracht hat. Dabei kommt Hardy, dessen Karriere ohnehin schon durch frühere Fehlschläge belastet ist, nicht in den Ermittlungen voran. Denn jeder in der Stadt hat etwas zu verbergen, und jeder macht sich verdächtig.

Warum will Dannys Vater Mark nicht preisgeben, wo er in der fraglichen Nacht gewesen ist? Warum löscht Dannys bester Freund alle Nachrichten von seinem Computer? Was weiß die kaltherzige Frau aus dem Trailerpark, was der alternde Zeitungsverkäufer, was der junge Priester? Nach und nach kommen bei allen Verdächtigen Geschichten aus der Vergangenheit ans Tageslicht, die daran zweifeln lassen, ob man seine Freunde und Familie je wirklich kennt. Das fragt sich bald auch Dannys Mutter Beth, die nicht nur die Trauer und Wut verarbeiten muss. Mittlerweile ist die Presse auf den Kindsmord aufmerksam geworden und bringt noch mehr durcheinander…

Man sollte meinen, „Broadchurch“ ist vom Thema irgendwie schon einmal dagewesen, aber der Schein trügt. Natürlich werden Klischees aufgegriffen, wie das des Ermittlers mit einem Makel, oder der Geheimnisse wie aus der Klatschpresse. Und auch Kindsmord ist nicht neu in der Kriminalliteratur.

Jedoch ist es der Thriller-Autorin Kelly gelungen, die den Roman ausgehend von Chibnalls TV-Serie geschrieben hat, all das so zusammenzusetzen, dass es den Leser ins Herz trifft. Denn hier ist die Familie des Opfers nicht nur die Kulisse für die Ermittlung, sondern steht im Vordergrund. Indem die Erzählperspektive zwischen den Figuren wechselt, bekommt man den größtmöglichen Einblick in die Emotionen und Motive der betroffenen Bewohner von Broadchurch. Auch das überraschende Ende, das den Leser sprachlos macht, weiß die althergebrachten Krimi-Muster neu zu interpretieren.

Fragen werden aufgeworfen, die sonst bei der Suche nach dem Mörder (die übrigens auch hier nicht zu kurz kommt) wenig aufkommen: Wie geht man mit einem so unvorstellbaren Verlust um? Kann man je wirklich mit einer persönlichen Tragödie abschließen? Wem kann man trauen, wenn jeder etwas verbirgt?

„Wie die meisten Briten hatte ich diese Serie schon im Fernsehen gesehen und war regelrecht besessen davon!“ (Erin Kelly)

„Broadchurch – Der Mörder unter uns“ ist die Romanbearbeitung der Serie, die 2013 mit vielen bekannten Schauspielern (u.a. David Tennant und Olivia Coleman) das britische Publikum begeistert hat. Sonst gehen Film und Buch meist den umgekehrten Weg, hier aber wird bewiesen, wo die Stärken des jeweiligen Mediums liegen: Die Atmosphäre und das Tempo sind in den acht Episoden unnachahmlich bebildert, die Schauspieler und Schauspielerinnen lassen den Zuschauer nah an den Ereignissen teilhaben. Dagegen gewährt das Buch einen tiefen Blick in die Psyche der Figuren, wie es filmisch kaum umzusetzen ist. Wer zuerst die Serie gesehen hat, erkennt die Story ziemlich genau wieder, die Emotionen werden noch stärker wieder aufgewühlt. Wer zuerst das Buch liest, kann sich anschließend in das filmische Broadchurch begeben. Beide Medien ergänzen sich perfekt.

„Broadchurch“ ist ein Buch, das den Leser komplett in Beschlag nimmt – man kann es an einem verregneten Wochenende verschlingen. Wer einen actionreichen Krimi sucht, wird hier nicht fündig. Aber wer zu diesem britische Whodunnit aus der oberen Liga greift, wird mit einer Story belohnt, die einen mit dem Beenden des Buches nicht loslassen wird. Oft kann man den Werbeaufklebern auf einem Roman nicht trauen, aber diesmal muss ich mich dem Urteil anschließen: Unbedingt lesen!

Broadchurch – Der Mörder unter uns. Chris Chibnall & Erin Kelly. Übersetzung: Irmengard Gabler. Fischer. 2014.

 

Bücherstadt Magazin

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Das Bücherstadt Magazin wird herausgegeben vom gemeinnützigen Verein Bücherstadt. Unter dem Motto "Literatur für alle!" setzt sich die Redaktion mit der Vielfalt der Literatur im Sinne des erweiterten Literaturbegriffs in verschiedenen medialen Aufbereitungen auseinander.

1 Kommentar

  1. Avatar

    Hat dies auf amethyststurm rebloggt und kommentierte:
    Das Buch zum Film? Das Buch NACH dem Film? Ja, das gibt es auch. Und wie perfekt es funktionieren kann, zeigt die Romanfassung vom ITV-Hit „Broadchurch“…

    Antworten

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