Kein (schlechtes) Tagebuch

von | 17.06.2018 | Buchpranger, Kinder- und Jugendbücher

Über 90% der niederländischen Kinder wachsen mit nur einem Elternteil auf. Diese Zahl ist natürlich frei erfunden, aber zumindest für den jugendlichen Protagonisten Boudewijn ist sie die volle Wahrheit. – Von Seitenkünstler Aaron

„Das hier ist kein Tagebuch“ gibt einen Einblick in das Innenleben einer kleinen Familie, die den Verlust eines Familienmitglieds verarbeiten muss. Vier Jahre nach dem Freitod der Mutter wird die überschaubare Haupthandlung aus den Augen des sechzehnjährigen Sohnes Boudewijn „Bou“ beschrieben. Dieser schreibt auf Anweisung seines Vaters nieder, was ihm durch den Kopf geht. Als wäre es nicht schon schlimm genug, dass Bou als Junge eine Art Tagebuch schreiben soll, bekommt er zusätzlich die Aufgabe, jeden Tag Musik zu hören. Die Medikation aus christlicher Kirchenmusik und Schreibtherapie führen in einem langwierigen Prozess zur Lösung der unsichtbaren Schleife aus wiederkehrenden Depressionen, in der Bou gefangen ist.

Chaotisches Erzählen

Wie bei einem Tagebuch gliedert sich der Text in einzelne, unterschiedlich lange und chronologisch gereihte Einträge. Die schriftlich fixierten Erinnerungen hingegen entbehren einer inhaltlichen Ordnung. Dadurch erschließt sich die fragmentierte Geschichte nicht auf Anhieb. Zusammenhänge lassen sich während der Lektüre nur allmählich erkennen und stellen die Lesenden somit vor ein Rätsel. Die chaotische Form passt sehr gut zum Inhalt, denn der Ich-Erzähler ist ebenfalls unzuverlässig. Seinem Alter und depressiven Zustand entsprechend, wechselt die Sprache vom Umgangssprachlichen zu Ausbrüchen in nahezu vulgärem Ton. Dies überrascht an einigen Stellen und kann als störend empfunden werden, bietet aber auch Abwechslung von der ansonsten nüchternen Erzählweise.

Bou berichtet überwiegend von Streitereien, seinen Grübeleien und depressiven Schüben. Doch wie in vielen Jugendbüchern gibt es auch in „Das hier ist kein Tagebuch“ eine Romanze, die einen Lichtblick für den Protagonisten darstellt. Die Freundschaft mit der Mitschülerin Pauline entwickelt sich jedoch nicht wie in jeder beliebigen Liebesgeschichte. So könnte jemand wie Bou behaupten, dies sei keine Romanze, und dabei Recht behalten. Ähnlich steht es auch mit dem Titel, denn es handelt sich bei diesem Buch tatsächlich nur auf den ersten Blick um ein Tagebuch. Kleine Hinweise in der wörtlichen Rede lassen vermuten, dass das Heft, in dem Bou schreibt, nicht mit dem Buch gleichzusetzen ist.

Jugendlicher Pessimismus und Gesellschaftskritik

Das Thema der Depression und ihrer Therapie wird in einer angemessenen, von der Norm abweichenden, Erzählweise behandelt. Die Gedanken des Protagonisten sind selten vernünftig und überschreiten zum Teil Grenzen des Politisch-Korrekten. Provokant und fragwürdig sind dabei Textstellen (S. 126 f., S. 137 ff., S. 150 f.), in denen migrationspolitische Themen unreflektiert, ja sogar fremdenfeindlich, angerissen werden. Die Verknüpfung von jugendlichem Pessimismus und Gesellschaftskritik erscheint plausibel, doch klingen auch einige andere Aussagen, etwa zur Familienplanung, nicht nach dem sechzehnjährigen Bou, sondern eher nach einer älteren Frau, möglicherweise der Autorin. Darunter leidet die Authentizität der jugendlichen Hauptfigur, somit des Ich-Erzählers und der gesamten Geschichte. Das sorgfältige Layout passt Schriftform und Satz hervorragend an die transportierten Emotionen an, kann aber nicht den belehrenden Unterton in Sassens Werk verwischen.

Depressive Stimmung

Es lässt sich erahnen, weswegen der anthroposophische Verlag Freies Geistesleben für die Übersetzung und Verlegung des ursprünglich 2010 in Amsterdam erschienenen Buches entschied: Mit fortlaufenden Bezügen zu Musikstücken wie dem „Stabat Mater dolorosa“ wird eine bedeutungsschwangere, christliche Heilsmotivik aufgebaut. Dies passt zwar zum Schicksal der Familie, aber wohl kaum zum Alltag eines Sechzehnjährigen.

Besser gelingt die Darstellung der alltäglichen, depressiven Stimmung und wie der Protagonist damit umgeht. Letzteres macht das schnell gelesene Buch aus, dessen Stärke darin gesehen werden kann, wie es anormales Verhalten nicht verurteilt, sondern als Teil des Lebens beschreibt. Damit ist es empfehlenswert für alle, die der Welt hinter den Seiten mal ohne Traum und Phantastik begegnen wollen. Aufgrund der teilweise vulgären Sprache und der deprimierenden Thematik eignet sich das Buch eher nicht für Kinder unter 12 Jahren.

Das hier ist kein Tagebuch. Erna Sassen. Übersetzung: Rolf Erdorf. Verlag Freies Geistesleben. 2015.

 

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