Kafka ganz privat

von | 12.11.2016 | Auditorium, Hörbücher

Franz Kafka: Vor allem zeichnen sich die Werke des deutsch-tschechischen Autors dadurch aus, dass sie zwar tiefen Einblick in sein Seelenleben geben, doch bleibt er im „tiefen Meer in uns“ nur schwer erreichbar. Auf der lit.COLOGNE 2015 eröffneten Corinna Harfouch und Robert Gwisdek einen neuen Zugang zum Autor der „Verwandlung“ – Wortklauberin Erika hat die Kopfhörer aufgesetzt und mitgehört.

Franz Kafka ist ein unzugänglicher Autor: In jedem Gespräch über ihn kommt über kurz oder lang der „Brief an den Vater“ zur Sprache, und urplötzlich sind alle Konversationspartner Psychoanalytikerinnen und Psychoanalytiker. Der Konflikt mit dem Vater, der sich in den unzähligen Kurzgeschichten spiegelt, die dank Max Brod der Öffentlichkeit zugänglich sind, durchzieht Franz Kafkas Werk und wird gern gerade im Zusammenhang mit „Das Urteil“ und „Die Verwandlung“ heraufbeschworen.

Ein ganz anderer Kafka

Corinna Harfouch und Robert Gwisdek brechen mit dieser nicht enden wollenden Tradition auf erfrischende Art und Weise, und es gelingt ihnen vortrefflich. Sie bedienen sich nicht nur des Selbstzeugnisses namens „Brief an den Vater“, welches Franz Kafka anhängt wie ein Schatten, sondern auch Briefauszüge aus Briefen an die ehemalige Verlobte Felice Bauer sowie an Milena Jesenská. Die tschechische Journalistin entdeckte in den 1920er Jahren eine Kurzgeschichte Kafkas. In der Folge entwickelte sich ein intensives Verhältnis zwischen den beiden. Dazu kommen Tagebuchauszüge sowie Einblicke in verschiedene Erzählungen und Romane, genauso wie amtliche Dokumente. Auch der Konflikt rund um den Vater wird gestreift, aber er reiht sich angenehm in die Reihe von Sinneseindrücken ein, welche angeboten werden.

Selbstzeugnisse und historische Dokumente sprechen

Die Selbstzeugnisse, Prosaauszüge und historischen Dokumente – unter anderem zitieren Harfouch und Gwisdek aus einem Arbeitszeugnis Franz Kafkas – beginnen mit den Stimmen der beiden Vortragenden zu sprechen und geben Einblick in einen ganz neuen Franz Kafka, der anders ist als erwartet. Dies wird durch die Sprecher noch unterstützt. Sowohl Harfouch als auch Gwisdek leihen diesem Kafka ihre Stimme, und eröffnen durch ihre Performance eine neue Wahrnehmung von Franz Kafka.

Die Performance macht die Musik

Die weibliche Sprechstimme drängt, ist nervös und scheint überall zugleich sein zu wollen, alles zugleich haben zu wollen – oder nichts. Es ist als spräche Kafkas innere Stimme aus den drängenden Briefen an Felice Bauer, in denen er sie anweist, möglichst jeden Tag einen Brief an ihn zu schreiben. Kafka wird als Besessener gezeigt, als Fanat, und daraus ergibt sich ungewollt-gewollt eine gewisse Situationskomik. Selten sieht man einen Schriftsteller derart nah vor sich, selten hat man Gelegenheit, ihn wirklich fassen zu können. Genau dieses Gefühl vermittelt Harfouch durch ihre Performance des drängenden Kafka.

Gwisdek spricht bedeckter, ruhiger, und wird zum Dreh- und Angelpunkt für Zuhörerinnen und Zuhörer und geleitet gekonnt durch den Text. Auch er liest Textstellen vor, jedoch jene, welche nicht aus Kafkas Feder selbst stammen. Es ergibt sich ein harmonischer Kontrast zwischen Gwisdek und Harfouch, wobei beiden Sprechenden genügend Raum zukommt, um ihr offensichtliches Talent deutlich auszuschöpfen.

Literat Privat: Ein anderer Kafka

Der Live-Mitschnitt des Kölner Literaturfests lit.COLOGNE, das jährlich im Frühling stattfindet, gibt einen neuen Blick auf den deutsch-tschechischen Schriftsteller Franz Kafka frei, den viele noch aus der Schulzeit in schlechter Erinnerung haben. Mittels dieses Hörbuchs, das insgesamt eine Spielzeit von 78 Minuten einnimmt, wird diese schlechte Erinnerung in eine gute verändert. Kafka wird nicht nur auf den Vater reduziert, sondern als das gezeigt, was er ist: Ein Mensch mit vielen Facetten, ein Schriftsteller auf dem verzweifelten Weg des Schreibens, ein intensiv Fühlender inmitten einer Welt voller Reize.

Da es sich um einen Live-Mitschnitt handelt, bleiben laute Atem- und Schmatzgeräusche sowie das eine oder andere Intermezzo des Publikums nicht erspart, doch nimmt dies dem Hörbuch in keiner Weise seinen Reiz. Vielmehr fühlt man sich in den Zuschauerraum versetzt. Das Hörbuch ist eine Empfehlung für alle Kafka-Fans und diejenigen, die es noch werden wollen.

Literat Privat: Franz Kafka. Live Mitschnitt der li.COLOGNE mit Corinna Harfouch und Robert Gwisdek. Random House Audio. 2016. Laufzeit: ca. 78 Min.

 

Bücherstadt Magazin

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