Iwan Gontscharow: Oblomow

von | 25.03.2015 | Belletristik, Buchpranger

„Erinnerungen sind entweder höchste Poesie, wenn sie Erinnerungen an ein lebendiges Glück sind, oder brennender Schmerz, wenn sie an verschorfte Wunden rühren.“

Der Gutsbesitzer Ilja Iljitsch Oblomow ist aufgrund seiner materiellen Sicherheit in der Lage sich seinem Dämmerzustand und seiner Schläfrigkeit hinzugeben und sich trotz großen Intellekts der Prokrastination hinzugeben. Briefe treffen ein, der Alltag muss bewältigt werden, sein Gut gepflegt werden, doch Oblomow ist der Schnelllebigkeit immer weniger gewachsen und verlangt nach Aufschub – bis es notgedrungen unumgänglich ist.

Der mürrische Diener Sachar ist ebenso keine große Hilfe im Haushalt, doch gehört er nun einmal zur Familie und besitzt kein so schlechtes Herz, wie er im ersten Blick zu denken lässt. An einem Tag, als der Phlegmatiker Oblomow seinen Müßiggang bis aufs Äußerste ausreizt, tritt der Jugendfreund Stolz in die Handlung ein. Der völlig gegensätzliche Charakter ist arbeitsam, tugendhaft, nichts könnte sie beide vereinen, doch eine gemeinsame Vergangenheit und die unermessliche Liebe zu seinem trägen Freund zieht Letzteren aus dem Sumpf der Untätigkeit hinein in die Gesellschaft und stellt ihm die junge Olga vor.

Olga vermag Ilja Iljitsch auf dem Land zu beschäftigen, regt seinen Geist an, jedoch auch sein Herz. Sie verlieben sich ineinander, wollen sich vermählen, doch Oblomows Lethargie siegt über die Heiratspläne und er kehrt in stillem Einvernehmen in seinen Dämmerzustand zurück, wird von anderen Nebencharakteren um sein Geld betrogen, Stolz regelt abermals sein Leben. Jedoch rettet dies Oblomow nicht.

Anfänglich muss der Leser sich behüten, dass die Lethargie des Oblomow nicht auf ihn übergreift, denn um den Charakter und dessen Entwicklung zu verstehen, ist es unabdingbar den Müßiggang mit all seinen Details zu verinnerlichen – auch wenn es in Anbetracht der folgenden 600 Seiten zeitweilig träge stimmt. Die Lektüre nimmt an Fahrt auf, wenn Olga die Szene betritt und das von Stolz beschriebene „goldene Herz“ zum Vorschein bringt.
In all dem Tiefgang ist es jedoch bemerkenswert wie viel Witz zwischen all der Tragik Platz findet, sich gemütlich macht und wie ein Mephisto vom Sessel aus auf die Szenerie spuckt. Doch genauso versteht er es auch sich zur rechten Zeit zu verziehen. Es ist schlichtweg eine perfekte Balance von Liebe, Gesellschaftskritik, Humor und Tragik – ein Gemälde, das aus dem Leben gegriffen ist. Und während das Mahl zubereitet wird, zwitschern die Vögel und der Wind bauscht die weißen Vorhänge auf, sodass der Frühlingsduft sich im gesamten Raum verteilt…

Der Roman hallt noch Tage später in mir nach, prägt mein Bild von russischen Sommerabenden auf dem Land. Der mir bis vor wenigen Monaten gänzlich unbekannte Autor hat mir binnen der 750 Seiten einen neuen Favoriten in mein Buchregal gezaubert – ich bin fasziniert, kann nicht aufhören zu schwärmen, Gontscharow hat mich vollends erobert!
Die Dialoge der Verliebten sind zum Weinen schön: all die Unsicherheit und Ungeduld, die in den Seelen haftet, die einander noch nicht gebeichtet haben. 1859 erschien das berühmteste Werk des russischen Romanciers Iwan Alexandrowitsch Gontscharow (1812-1891) – eine liebevolle Skizzierung aller Charaktere, eingebettet in lebendige Dialoge, machen es schlichtweg zu einem Meisterwerk!

Nicole
urwort.com

Oblomow, Iwan A. Gontscharow, Vera Bischitzky (Übersetzerin),
dtv, 2014, Erstveröffentlichung: 1859

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3 Kommentare

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    Das Buch steht schon seit Jahren ungelesen im Regal! Irgendwann falle ich über Oblomow her…

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    Mir geht es da so wie Pop-Polit, auch hier steht das Buch seit Jahren ungelesen im Regal … vielleicht sollte ich es doch noch mal hervorholen!

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  3. Avatar

    Schön auch: „s gibt, vom Roman inspiriert, das Verb „oblomowieren“ für „lustlos, lebensunfähig sein, träge u. müßig leben“. Ich verwende es gelegentlich im Sinne von „der Muße pflegen“ ; )

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