In Zeiten der Bescherung

von | 05.12.2020 | #litadvent, Kreativlabor, Specials

Nina saß vor dem Eingang des Supermarkts am Ortsrand von N. auf einer Pappe und guckte umher. Sie registrierte zwar eine recht große Anzahl von Kunden, die am Vormittag dieses 24. Dezember noch Einkäufe erledigen wollten. Doch viel zu wenige hatten bisher etwas Geld in den Becher der jungen Frau geworfen. Ihr Hund Jimmy, ein kleiner Halb-Pekinese mit rötlichem Fell, schlummerte indessen unbekümmert in Ninas Schoß.

Auf einmal fiel ihr Blick auf den Grünstreifen, der jenseits des Parkplatzes vor dem Supermarkt lag, zwischen der Straße und einem Fußweg. Ein grünes Band inmitten von Beton und Stein. Das tröstliche Grün aber nur sichtbar aufgrund eines weiteren schneelosen Weihnachtstages. Dort, auf dem bisschen Gras neben dem Eingang zum Parkplatz, vielleicht 20 Meter von Nina entfernt, hielt ein Motorrad an, von dem ein markanter Typ abstieg. Nicht allzu groß, aber kräftig wirkend, mit einem dunklen Schnauzbart wie ein Walross, die Enden rechts und links des Mundes. Dazu eine schwarze Ledermontur. Nach dem Absetzen des mit roten und weißen Streifen versehenen schwarzen Helmes waren kurze, dunkle, an den Schläfen graue Haare zu sehen. Er ließ das Motorrad stehen und ging auf den Supermarkt zu.

Während er näher kam, hatte Nina Gelegenheit, ihn verstohlen zu mustern. Das Gesicht war narbig, die schmalen Augen von kühlem Grau, er wirkte wenig vertrauenerweckend. Ein kurzer Blick in Ninas Richtung, ein Griff zum Mundnasenschutz, dann betrat der Motorradfahrer den Markt.

Ninas Gedanken begannen zurück in die Vergangenheit zu wandern, als ihr Vater ebenfalls ein Motorrad besessen hatte. Der hatte auch graue Augen gehabt, ihr bewunderter, liebevoller, fürsorglicher Papa, der Gegenpart zu ihrer kühlen, abweisenden Mutter. Doch er war gestorben, als sie in der achten Klasse gewesen war, und damit hatte ihr altes Leben aufgehört. Sie hatte Schwierigkeiten in der Schule bekommen, das Gymnasium in der Folge verlassen, sich dann wieder halbwegs gefangen und auf einer Gesamtschule immerhin den Realschulabschluss geschafft. Ihr Vater aber hatte sich gewünscht, dass sie Abitur machte und später studierte …

Der neue Partner ihrer Mutter hatte sie zwar in Ruhe gelassen, aber es war klar, dass sie nur störte. Die Ausbildung im Einzelhandel ein Desaster mit Kündigung, weil sie sich von einem Vorgesetzten nicht hatte betatschen lassen und ihm eine Ohrfeige verpasst hatte. Daraufhin in einer Kneipe gekellnert und in einer WG gewohnt, bevor sie sich endgültig davongemacht hatte.

Und jetzt war bedingt durch Corona kein Platz mehr bei dem Wanderzirkus, dem sie sich vor drei Jahren angeschlossen hatte. Bedauernd hatte die Direktorin ihr mitteilen müssen, dass sie leider nichts anderes machen konnte, als sich von Nina zu trennen, die Lage sei zu kritisch. Kein Geld zu Weihnachten, keine Hoffnung, stattdessen saß sie hier, unten angekommen, für ein paar Tage hatte sie noch einen Schlafplatz in einem der Zirkuswagen, bis die anderen weiterzogen …

Auf einmal wurde Nina aus ihren Gedanken gerissen. Auch Jimmy hob den Kopf und begann zu knurren, denn drei Jungs, vielleicht 15 Jahre alt, tauchten unvermittelt auf. Der eine bereits richtig groß und kräftig, die beiden anderen aber auch schon ziemlich entwickelt, laut, herausfordernd, wohl auf Ärger aus. Im Gegensatz zu Nina trugen sie keinen Mundnasenschutz.

Nina versuchte unbeteiligt zu tun, als die drei die schmächtige Bettlerin mit den kurzen braunen Haaren, der Armeejacke und dem Hund als Ziel ihrer Späße auszumachen begannen. Doch es fiel ihr schwer, Ruhe zu bewahren, während sie Jimmy am Halsband festhielt. „Sieh an, was haben wir denn da? Eine Schnorrerin!“ Das kam von dem kleinsten der drei, wohl dem Anführer, trotz seiner jungen Jahre irgendwie verkommen wirkend, mit einem hämischen Zug im Gesicht. Die anderen beiden grinsten, ohne sich um die Passanten zu scheren, die an ihren Einkäufen interessiert waren und nicht an der Bettlerin und den drei Heranwachsenden, die sich jetzt vor Nina und Jimmy aufbauten.

Jimmys Knurren wurde intensiver, während es Nina, obwohl lebenserfahren genug, langsam mulmig wurde. Der Anführer stampfte direkt vor Nina mit dem Fuß auf den Boden, was Jimmy so richtig verärgerte. Die drei Typen lachten währenddessen nur über Jimmys drohendes Knurren, der von Nina nur mit Mühe festgehalten wurde.

Plötzlich jedoch tauchte der Motorradfahrer auf und stellte sich neben Nina und ihren Hund, immer noch den Mundschutz vom Einkaufen auf, eine Stofftasche baumelte von der einen Hand. Das Lachen der drei erstarb. Der Biker machte nichts, schaute den Wortführer aus seinen grauen Augen einfach nur an. Der wurde nervös, blickte zu den beiden anderen hinüber, die aber ganz offensichtlich auf einmal keine Neigung mehr verspürten, sich hier noch länger aufzuhalten. Der Motorradfahrer wirkte zu selbstsicher, zu stark, seine Ausstrahlung reichte aus, um die drei zu verunsichern. So wandten sie sich ab und zogen kleinlaut von dannen, ein Anblick, der Nina unter ihrem Mundnasenschutz zum Lächeln brachte. Dankbar guckte sie hoch zu dem Biker, während sie Jimmys Halsband losließ.

Der wurde nun kindisch und begann nach dem Schnürsenkel am linken Stiefel des Motorradfahrers zu schnappen. Der Biker grinste, zog seine Handschuhe aus, beugte sich hinunter, so dass auf einmal ein kleines hölzernes Kreuz von seinem Hals nach unten hing. Er stupste den Hund zurück, um die Schnürsenkel richtig zuzubinden. Jimmy fand das natürlich lustig, ließ sich nicht beirren und begann erneut nach dem Schnürsenkel zu schnappen, bis Nina ihn wieder am Halsband erwischte und der Motorradfahrer endlich ordentlich den Stiefel zubinden konnte.

Nachdem er sich wieder aufgerichtet hatte, schob der Biker den linken Ärmel hoch, um sich den Unterarm zu reiben, vielleicht war etwas verspannt. Als er damit aufgehört hatte, war deutlich ein Tattoo auf dem Arm sichtbar, das Nina interessiert betrachtete. Eine stilisierte Flamme und drei Worte: Legio Patria Nostra. Nina erinnerte sich an ihre Gymnasialzeit, die paar Jahre Latein reichten aus, um die Worte zu übersetzen: Die Legion (ist) unser Vaterland. Der Biker hatte ihren Blick bemerkt und sagte mit überraschend sanfter Stimme: „Ich war mal Soldat. Daher das Tattoo.“ „Aha“, entgegnete Nina, nicht wissend, dass es sich bei den drei Worten um das Motto der französischen Fremdenlegion handelte …

„Jetzt bin ich aber nicht mehr beim Militär, dort bei der Kirche ist jetzt meine Heimat“ – er wies zu dem Kirchturm hinüber, der sich vielleicht einen halben Kilometer entfernt erhob – „Ich bin da Friedhofsgärtner.“ Nina nickte verstehend, während der Biker sie nachdenklich betrachtete. Dann fuhr er fort: „Heute Abend ist in der Kirche Gottesdienst, aber wegen Corona gibt es da Beschränkungen und ich weiß nicht, ob das was für dich ist. Aber ab Mitte Januar ist ein Praktikumsplatz als Gärtner oder Gärtnerin frei …“ Ninas grüne Augen weiteten sich, sie begriff.

Der Friedhofsgärtner zog einen Zettel und einen Kuli aus der Innentasche seiner Lederjacke, kritzelte Name und Adresse darauf und reichte ihn ihr. Immer noch fast fassungslos, beinahe mechanisch, nahm Nina den Zettel entgegen, während der Biker – Daniel hieß er also – fragte „Wie heißt ihr beide überhaupt?“ „Das ist Jimmy, und ich bin Nina.“ „O.k., Nina und Jimmy, macht Feierabend. Richtig viel ist es nicht, aber es dürfte erst mal reichen. Frohe Weihnachten.“ Er griff erneut in die Innentasche seiner Jacke und zog einen Zwanziger hervor, den er der erstaunten Nina in die mechanisch zugreifende Hand drückte. „D… danke“, stammelte sie. Daniel nickte und sagte: „Gern geschehen“, streichelte Jimmy kurz den Kopf und salutierte dann vorschriftsmäßig auf militärische Art, dabei aber ein Auge zusammenkneifend. Dann ging er zu seinem Motorrad auf dem Grünstreifen, diesem grünen Band, das Nina auf einmal eine Art Verheißung zu sein schien, stieg auf und fuhr davon …

Text: Stadtbesucher Jürgen Rösch-Brassovan
Illustration: Seitenkünstler Aaron

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Über den Autor:
*1966, Studium Geschichte/Politik, verheiratet, ein Sohn. Veröffentlichungen im Internet (u.a.): Bücherstadt Kurier – Literarischer Advent 2016, 2017, 2018, 2019. 1001buch – Literarischer Advent 2014 (Audioversion einer Kurzgeschichte). Veröffentlichungen in gedruckter Form: Kurzgeschichten in diversen Anthologien (z.B. „Es geschah zu Halloween“, net-Verlag, erschienen 2019).

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[tds_note]Ein CLUE-Beitrag zum Special #litadvent. In diesem Jahr haben wir drei Clues vorgegeben, die in den kreativen Texten auftauchen sollten: Tattoo, Schnürsenkel, Grünstreifen. Was sich die AutorInnen ausgedacht haben, könnt ihr hier lesen.[/tds_note]

 

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