„In Wirklichkeit gibt es gar keine Erwachsenen.“

von | 10.11.2014 | Belletristik, Buchpranger

Eine Geschichte, die die Wunder der Kindheit aufleben lässt und Sätze, die ohne Atempause tief in die Seele des Lesers eindringen: Mit „Der Ozean am Ende der Straße“ hat Neil Gaiman einen Roman geschaffen, der sich nicht einordnen lässt, aber dafür umso atemberaubender ist.

Ein Mann reist zu einer Beerdigung in die Stadt seiner Kindheit. Als er die Straße besucht, in der er einst gewohnt hat, beginnt er sich an eine Episode seiner Kindheit zu erinnern, die er vergessen wähnte, so unglaublich scheint sie.
Denn als der Ich-Erzähler sieben Jahre alt ist, begeht ein Untermieter des Hauses Selbstmord. Das lockt eine uralte, gefährliche Kreatur an, deren Natur es ist, Menschen das zu geben, was sie begehren – ohne Rücksicht auf Verluste. Der Ich-Erzähler begleitet das Nachbarsmädchen Lettie Hempstock, die Kreatur zu bannen. Die Bewohnerinnen der Hempstock-Farm – Mädchen, Frau und Greisin – sind nämlich mehr, als sie auf den ersten Blick zu sein scheinen. Sie sind rätselhaft und weise, sie wissen und können mehr, um Sterbliche zu sein. Doch der Plan, die Kreatur zu bannen, misslingt, und sie taucht in Gestalt einer seltsamen Haushälterin in das Leben des Ich-Erzählers zurück. Bald jedoch werden auch andere Wesen angelockt, die das Ende der Welt bedeuten könnten…

„Der Ozean am Ende der Straße“ ist ein ungewöhnlicher Roman, der sich den Genres entzieht. Denn vereint werden eine Kindheitserinnerung mit einer fantastischen Erzählung, und alte Mythen mit klassisch anmutenden Motiven aus Kinderbüchern. Immer wieder zweifelt der Leser, ob das, was dem Ich-Erzähler widerfahren ist, real ist, oder ob ihm seine Fantasie einen Streich spielt, und bis zum Schluss schafft es Gaiman, die Vorstellung von Wirklichkeit auszuweiten. Gerade die philosophischen Gedanken, die in einfacher Sprache daherkommen, lassen den Leser nicht los. Eines der immer wiederkehrenden Motive des Romans ist das Verhältnis von Kindern und Erwachsenen: Sind alle Erwachsenen eigentlich nur ängstliche Kinder in größeren Körpern? Sind Erwachsene ganz anders als Kinder, ohne Fantasie und Abenteuerlust? Die Überlegungen des Ich-Erzählers, im Prozess des Erinnerns als Überschneidungspunkt von kindlich und erwachsen, zwingen den Leser beinahe dazu, über die eigene Kindheit nachzusinnen. Ein anderes Motiv ist die Wahrnehmung. So wie die Hempstocks mit dem Verlauf der Ereignisse spielen können, wie sie Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft überlagern lassen, stellen sie die Frage danach, ob es mehr gibt, als man glaubt.
So klar und einfach die Sprache des Romans ist, so wirkmächtig ist sie gleichzeitig und jagt dem Leser von Kapitel zu Kapitel mehr Schauer über den Rücken.

Alles in allem ist „Der Ozean am Ende der Straße“ einer der besten Romane von Gaiman, gerade weil er so vielfältig ist. Mehrfach ausgezeichnet, unter anderem mit dem britischen National Book Award und dem Locus Award for Best Fantasy Novel, ist der Roman seit 2013 im englischsprachigen Raum ein Bestseller. Die Illustrationen von Speh verleihen der deutschen Ausgabe den Flair eines alten Kinderbuchs und geben der Geschichte noch mehr Tiefe. Es lohnt sich, den „Ozean am Ende der Straße“ mehrmals zu lesen. Denn es ist, wie Gaiman selbst sagt, ein Buch, „mit dem keiner gerechnet hatte […], aber den Leser tief berührt.“

Maike

Der Ozean am Ende der Straße, Neil Gaiman, Hannes Riffel (Übersetzung), Jürgen Speh (Illustrationen) Eichborn, 2014

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