In medias res

von | 15.11.2022 | Belletristik, Buchpranger

Amor Towles entwirft in „Lincoln Highway“ eine skurrile Reise im Nebraska Mitte der 50er Jahre – voll mit nur so halb sympathischen Figuren und einer Menge fragwürdiger Ereignisse. Satzhüterin Pia hat die fast 600 Seiten durchgehalten und wurde mit einer unkonventionellen Geschichte und einem überraschenden Ende belohnt.

Emmett wird aus der Besserungsanstalt Salina entlassen, in die er als gerade noch Minderjähriger wegen Totschlags kam. Der inzwischen 18-jährige junge Mann kehrt nach dem Tod seines Vaters früher nach Hause auf die Farm zurück, wo ihn sein 8-jähriger Bruder Billy erwartet. Einer Verkettung von unglücklichen Umständen ist es zu verdanken, dass ihr Zuhause inzwischen der Bank gehört, so dass sich die Brüder in Emmetts altem Studebaker zu eigenen Abenteuern aufmachen möchten: Billy hat sich in den Kopf gesetzt, der vor Jahren verschwundenen Mutter über den berühmten Lincoln Highway zu folgen – eine vage Spur, aber sie wollen sich auf den Weg nach Kalifornien machen. Alles kommt anders, als kurz vor der Abfahrt zwei Freunde aus der Besserungsanstalt auftauchen: Duchess und Woolly haben eigene Reisepläne und bringen alle bisherigen Ideen ordentlich durcheinander. Es beginnt ein völlig anderer Road-Trip als man als Leser:in vielleicht erwartet hatte.

Kurzweilig …

Der Roman ist in Abschnitte unterteilt, die durch das Herunterzählen von zehn einen Countdown-Charakter haben. Das weckt die Neugierde und hilft zusammen mit den eher kurzen Kapiteln, das umfangreiche und mehr als 570 Seiten starke Buch in gut verdauliche Häppchen zu unterteilen. Die Geschichte wird dabei mehr oder weniger von allen Figuren im Buch erzählt: Die meisten Kapitel sind aus Sicht von Emmett, Billy, Duchess und Woolley erzählt, einige Kapitel aber auch von anderen Nebenfiguren. Interessant ist dabei, dass nur Duchess und die Nebenfigur Sally als Ich-Erzähler:in in Erscheinung treten. Das überrascht, weil die Erzählung eher Emmett als erste Hauptfigur in den Fokus rückt. Je näher das Ende rückt, desto kürzer sind die Zeitabstände – die letzten Kapitel erzählen die Geschehnisse schließlich zeitgleich aus verschiedenen Perspektiven.

Es gibt Stellen im Roman, an denen die skurrilen Begegnungen dazu Anlass geben, über eine Auflösung als Traum nachzudenken. Aber irgendwie bringt der Autor es doch wieder zurück in die Spur, nur um uns zu einem neuen verrückten Nebenschauplatz zu lenken. Bis auf Emmett sind die Hauptfiguren eher exzentrisch zu nennen. Emmett über Duchess, der Schlüsselfigur für den meisten unvorhergesehenen Vorkommnisse:

„Er ist ein guter Freund, auf seine verrückte Art, und er ist ein sehr unterhaltsamer Unruhestifter. Aber er ist auch jemand mit einer selektiven Wahrnehmung. Was vor ihm ist, sieht er klar und deutlich, klarer als die meisten von uns, aber wenn etwas zur Seite gerückt wird, weiß er schon nicht mehr, dass es da ist. Und damit schafft er sich selbst, aber auch allen anderen in seinem Dunstkreis jede Menge Ärger.“

Woolley stammt aus einer reichen und hochangesehenen Familie, fällt aber durch kognitive Einschränkungen aus dem Raster. Und Billy? Billy hat einen ständigen Begleiter, das Buch „Professor Abacus Abernathes Kompendium von Helden, Abenteurern und anderen unerschrockenen Reisenden“ hat er bereits unzählige Male gelesen. Der vermutlich hochintelligente und ein wenig verträumte Junge will die Geschichte ihres Abenteuers im letzten leeren Kapitel seines Buchs verewigen: Angefangen wird natürlich in medias res – Mitten in den Dingen.

… und langatmig

An der einen oder anderen Stelle hätte der Autor sich kürzer fassen können – aber zu einem gewissen Grad ist dieser massige Textfluss auch notwendig, um das Buch zu dem zu machen, was es geworden ist: ein träger Fluss, dessen gelegentliche, aber immer recht unerwarteten Stromschnellen uns Leser:innen bei der Stange halten. Dabei wirkt „Lincoln Highway“ eher wie ein großer Raddampfer, der über ebenjene Stromschnellen unaufgeregt hinwegrollt. Das Tempo im Buch ist, trotz des kurzen Zeitraums, den die Geschichte erzählt, eher gemächlich. Dafür sorgen nicht zuletzt die teilweise ermüdenden Rückblicke und Ausschmückungen, denn, wie gesagt, an der einen oder anderen Stelle hätten es auch zwei Wörter statt zehn getan.

Das Buch lässt mich etwas unentschlossen zurück: Ein (großer amerikanischer?) Roman über das 50er-Jahre-Amerika mit durchaus interessanten, gut ausgearbeiteten Figuren und einer eigentlich abenteuerlichen Reise, die irgendwie zu gemächlich und tendenziell zu abwegig ist? Unterhalten wurde ich jedenfalls gut, aber das ist vor allem dem gelungenen Ende zu verdanken. Und diesem Zitat aus einem Sally-Kapitel, das an dieser Stelle wohl einen passenden Abschluss bildet:

„Nachdem Emmett rausgegangen war und sich in sein quietschgelbes Auto gesetzt hatte, dachte ich, in Amerika gibt es vieles, das eine stattliche Größe hatte. Das Empire State Building zum Beispiel, und die Statue of Liberty. Oder der Mississippi und der Grand Canyon. Auch der Himmel über der Prärie ist groß. Aber nichts ist so groß wie die Meinung eines Mannes von sich selbst.“

Lincoln Highway. Amor Towles. Übersetzung: Susanne Höbel. Hanser. 2022.

Pia Zarsteck

Pia Zarsteck

Pias Liebe zur Literatur hat sie vor Jahren an die Uni Bremen geführt, wo sie bis zum Masterabschluss Germanistik studierte. Heute ist sie Vorsitzende im Bücherstadt e.V., Mama einer Vierjährigen und beruflich ganz woanders unterwegs - aber immer noch vernarrt in Bücher und Spiele. Ein Leben ohne die Bücherstadt kann sie sich nicht vorstellen.

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