Im Nebel

von | 24.03.2015 | Kreativlabor

Sie berührte die Blätter nur ganz sanft, doch die schweren Tautropfen lösten sich ohne Widerstand, rannen ihre schmalen Finger hinunter und sammelten sich in ihrer Hand zu einem winzigen, glasklaren Gewässer. Sie betrachtete ihr Gesicht darin und wunderte sich über das glückselige Strahlen in ihren Augen. Übermütig versenkte sie ihr Gesicht in dem jungfräulichen Wasser und trank.
Sie konnte nicht sagen, ob dieses Wasser das reinste war, das sie jemals getrunken hatte, sie wusste nicht ob es besonders gesund war oder besonders erfrischend. Aber sie hatte noch nie etwas getrunken, das ihren Durst ebenso gestillt hätte. Sie hatte kein besonderes Verlangen nach Wasser verspürt. Diesmal hatte sie nicht getrunken, um ihren Körper zu nähren. Es war der Durst nach Leben, der sie nach den Tautropfen hatte greifen lassen. Der Durst einer ausgedörrten Seele in der unendlichen Wüste der Routine. Er war kaum gestillt und doch fühlte sie sich sofort wacher, dem Kind nahe, das vor langer Zeit noch voller Vorfreude vom Leben geträumt hatte. Aus dem das enttäuschte, verwirrte Wesen geworden war, das sie all die Jahre in ihrem Inneren eingesperrt hatte. Nicht aus Boshaftigkeit.

Es war ihre Seele, die litt. Und eben darum hatte sie das unschuldige Ding einkerkern müssen, um das Schreien nicht mehr zu hören. Das Schreien nach Freiheit. Sie hatte sich abgewandt, um weiter zu funktionieren. Um jeden Tag aufstehen zu können und ein Leben zu führen, in das sie unbedacht hinein gestolpert war, das sie nicht mehr gehen ließ. Sie hatte die Ohren verschlossen, um nicht das leiser werdende Jammern hören zu müssen, obwohl ihr so klar war, dass sie zerbrechen würde, sollte der unschuldige Träumer schließlich aufgeben und verstummen.
Doch ihre Wünsche waren nicht vergangen. Der Träumer war nicht gebrochen in einer grauen Welt erwacht. Sie hatte das Schreien ignoriert, bis es verklungen war. Trotzdem hatte ihre ausgedörrte Seele nie aufgeben. Stumm und stur hatte sie abgewartet, hatte darauf gewartet, dass Zeit und Unachtsamkeit die Fesseln lockern würden. Die Routine hatte ihr Augen und Herz verschlossen, bis sie den Zucker des Kuchens nicht mehr schmeckte, ihn nur noch aß, um ihren Körper funktionstüchtig zu halten.

Es war nur ein Auftrag gewesen. Ein Flug in ein fremdes Land. Kein Gedanke an diese neue, aufregende Welt. Pflichtbewusst an die Zukunft denken. Sicherheit. Die gestellten Aufgaben erledigen. Gespräche führen. Verträge schließen. Geld verdienen. Sich absichern. Sich beweisen. Aufsteigen. Wohin? Doch sie war noch kaum mit einem Bein aus dem Flugzeug heraus getreten, da hatte es in ihr einen Aufschrei gegeben. Die morschen Riegel waren gebrochen, der Staub der Jahre aufgewirbelt. Und der Träumer jubelnd erwacht.
Endlich freigesetzt hatte sich das Kind nicht mehr fangen lassen. Wild hatte es alles aufgesogen. Hatte gestaunt über das unendlich tiefe Blau des Himmels, die schweren Gerüche in der Luft, die feuchte Hitze, die sich sofort an jedem Neuankömmling festsetzte, um ihm auf Schritt und Tritt zu folgen. Quengelnd hatte das Kind die Pflichten abgesessen, um sich dann in die Menge zu werfen. Es hatte gegessen und getrunken und jeden neuen Geschmack quietschend willkommen geheißen. Schließlich hatte sie gehen müssen, war dem Ruf gefolgt, aber der Kerker war zerborsten. Der Träumer hatte sich befreit und nährte sie lebenshungrig mit Wünschen, bis sie erneut nachgab, um noch einmal das Auflachen des Kindes zu hören.

Sie tauchte lächelnd aus ihren Erinnerungen auf, spürte die Feuchtigkeit auf ihrer Haut, wie der leichte Wind freundlich ihre Haare zauste. Sie beobachtete wie die Nebel sich langsam hoben und eine atemberaubende Landschaft gebaren, so still und doch voller Leben. Sie fühlte sich klein und unwichtig. Doch zum ersten Mal war es ein gutes Gefühl. Sie war Teil einer gewaltigen Welt, angekommen an einem Ort, der ihr Leben lang auf sie gewartet hatte. Sie trat an den Rand der Felsen und blickte über das satte Grün des Blättermeeres in die Ferne. Langsam erwachte das Leben um sie herum. Sie blieb still stehen, lauschte auf die fremdartigen Geräusche um sich her und spürte wie das befreite Kind stumm in die Welt blickte, sich schließlich friedlich in ihrem Inneren zusammenrollte und zum ersten Mal seit langer Zeit erfüllt einschlief.

Varinia König
Foto: Marco
Ein Beitrag zum Schreib-Projekt “100 Bilder – 100 Geschichten“.

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