Ihrer Zeit voraus

von | 27.11.2017 | Belletristik, Buchpranger

„Lieber Daddy Long Legs“ – so oder so ähnlich beginnen die meisten der Briefe in Jean Websters gleichnamigem Briefroman von 1912. Der Klassiker ist jetzt in einer neuen Ausgabe im Königskinder Verlag erschienen. Worteweberin Annika hat sich nicht nur von der herrlichen Aufmachung bezaubern lassen.

Jerusha, genannt Judy ist im Waisenhaus aufgewachsen. Eigentlich sind ihre Aussichten nicht gerade rosig. Doch dann beschließt einer der Treuhänder des Hauses, Judy zum College zu schicken, um sie als Schriftstellerin auszubilden! Dafür stellt er aber einige Bedingungen: Er möchte unerkannt bleiben, gibt sich deswegen den Namen John Smith, und jeden Monat soll Judy ihm in einem Brief von ihren Fortschritten berichten, den er nicht zu erwidern gedenkt. Am College blüht Judy auf, findet neue Freundinnen und neues Selbstvertrauen, auch wenn ihre Vergangenheit ihr manchmal als Hindernis erscheint.

Ein geheimnisvoller Gönner

In ihren Briefen findet Judy einen neuen Namen für Mr. Smith – „Daddy Long Legs“ nach den Weberknechten, die so lange Beine haben, wie der Mann, auf den sie nur einen kurzen Blick erhaschen konnte. Dieser Herr Langbein wird Judys Familienersatz und Vertrauter, auch wenn er nicht einen der stürmischen, humor- und gefühlvollen Briefen beantwortet.

Spannung entsteht im Roman vor allem dadurch, dass die Identität des Treuhänders fast bis zum Schluss ungewiss bleibt. Aus der Warte des (erfahrenen) Lesenden kann man einige Vermutungen und Bezüge herstellen, die Judy verborgen bleiben. Doch auch wenn Mr. Long Legs ein Rätsel darstellt, geht es im Roman hauptsächlich um Judy. Als Mitlesende der Briefe kann man Judys Empfindungen und ihre Entwicklung zu einer starken Frau mitverfolgen. Mal blickt sie ironisch auf das Leben, mal sehr weise, und so liest sich „Lieber Daddy Long Legs“ sehr abwechslungsreich:

„Ich habe beschlossen, mich am Wegesrand niederzulassen und einen großen Berg kleiner Glücksmomente anzuhäufen, selbst wenn ich dabei nie eine große Schriftstellerin werde.“

Eine starke Frauenfigur

Jean Webster (1876 – 1916) war eine amerikanische Journalistin und Schriftstellerin, die sich in ihren Romanen vor allem an junge Frauen richtete, wie auch in ihrem bekanntesten, „Lieber Daddy Long Legs“. Ihre Texte sind oft sozialkritisch und spiegeln ein modernes Frauenbild, so dass sie auch heute noch gut unterhalten. Das zeigt sich an der Protagonistin Judy, die sehr lebensecht gezeichnet ist. Sie hält sich nicht immer an die Regeln, die Daddy Long Legs ihr auferlegt, tritt für das Wahlrecht von Frauen ein und ihr werden auch einige schlechte Eigenschaften zugestanden. Viele ihrer Aussagen sind ihrer Zeit voraus und begeistern auch deswegen.

Die Neuauflage von „Lieber Daddy Long Legs“ ist ein wahres Prachtstück. Das neue Kleid, das der Königskinder Verlag dem alten Text geschneidert hat, überzeugt durch eine schöne florale Umschlaggestaltung. Und auch die Illustrationen von Franz Renger, die immer wieder in Judys Briefe eingeflochten sind, sind hervorzuheben. Sie fangen den lustigen Ton der Briefe wunderbar ein und geben der Erzählerin ein Gesicht.

Und noch ein literarischer Fun-Fakt zu „Lieber Daddy Long Legs“: Auf Schwedisch heißen der Roman und die Figur „Pappa Långben“. Ein Name, der wahrscheinlich Astrid Lindgrens Tochter Kerstin zum Namen „Pippi Långstrump“ inspirierte – einer weiteren im wahrsten Sinne starken Frauenfigur!

Lieber Daddy Long Legs. Jean Webster. Aus dem Englischen von Ingo Herzke. Mit Illustrationen von Franz Renger. Königskinder Verlag. 2017.

Bücherstadt Magazin

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