Wie man Flaschengeister in Briefe sperrt

von | 11.11.2021 | Belletristik, Buchpranger

„I Get a Bird“ von Anne von Canal und Heikko Deutschmann ist ein Briefroman, dessen Entstehungsgeschichte Worteweberin Annika gleich neugierig gemacht hat. Warum sie den Roman trotz Längen bezaubernd fand, verrät sie hier.

Zwei Jahre lang schrieben sich die Schriftsteller*innen Anne von Canal und Heikko Deutschmann als Jana und Johan Briefe, ohne die darin erzählten Wendungen vorher miteinander abzusprechen oder den Schreibprozess zu kommentieren. Ausgangspunkt des Schreibens sollte ein vergessener Gegenstand sein, den der eine an die andere zurückschickt.

Rettungsanker per Post

Daraus ist ein in einer Telefonzelle vergessener Kalender geworden, den Johan an Jana sendet, nachdem er ihn jahrelang aufbewahrt hatte. Jetzt schmeißt er alles aus der Wohnung raus, räumt auf und schreibt. Jana schreibt zurück – so viel hätte es ihr bedeutet, den Kalender früher zu bekommen, doch jetzt? Nach und nach lernen die beiden Figuren einander in ihren Briefen kennen, offenbaren sich ihre Schwächen und Sorgen, sind neugierig aufeinander. Sie stellen fest, dass sie ähnliche Verluste erlebt haben, dass ihnen beiden das Wasser bis zum Hals steht. Über die Entfernung versuchen sie, einander Rettungsanker zu sein und füllen die Leere zwischen Freiburg, Visby und Neumünster mit Worten. Sie erzählen Geschichten, die heilen, so gut es geht.

„Geschichten sind wie Flaschen, in die wir die Geister und bösen Träume sperren. Schaudernd spielen wir mit dem Gedanken, den Korken zu ziehen, können die hässlichen Wesen, angsteinflößenden Fratzen, schmerzhaften Trugbilder durch das dicke Glas betrachten. Und sind doch immer sicher, dass sie uns nicht in die Nase beißen.“ (S. 249)

Fesselnd mit kleinen Längen

Die Briefe sind spannend und wendungsreich, sprachmächtig. Nachdem ich „Mein Öland“ von Anne von Canal sehr verzaubernd fand, hatte ich mir von diesem Roman vielleicht noch eine Spur mehr erwartet, trotzdem beweisen die beiden Autor*innen auch hier, dass sie schreiben können. Teilweise hatte ich das Gefühl, es würde noch etwas fehlen, ein gewisses Etwas, ein wenig mehr. Möglich, dass hier die Entstehungsgeschichte der Handlung den Wind aus den Segeln genommen hat, sich die Figuren und ihre Erfinder*innen im Kreis drehten? Ohne Absprachen mag es schwierig sein, auf den Punkt und durchgängig fesselnd zu erzählen.

Gegen Ende schlagen die Briefe dann eine die Fantasie preisende Schleife um diesen Briefroman, die mich überzeugt hat. „I Get a Bird“ war für die Schreibenden sicherlich ein spannendes, aufregendes Experiment – und es ist geglückt! Auch für uns Leser*innen ist daraus ein Erlebnis geworden, dem man kleine Längen gerne verzeiht.

I Get a Bird. Anne von Canal und Heikko Deutschmann. Mare. 2021.

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