Horror für Kinder und doch nicht nur für Kinder

von | 31.10.2022 | #Todesstadt, Buchpranger, Filme, Filmtheater, Specials

In dem Buch „Coraline“ aus dem Jahr 2002 schildert Autor Neil Gaiman die unheimlichen Erlebnisse der titelgebenden Heldin, die mit ihren Eltern in ein neues Haus zieht. 2009 erschien schließlich die Stop-Motion-Verfilmung durch das Studio Laika. Geschichtenerzähler Adrian vergleicht beide Werke miteinander.

[tds_warning]Achtung, in diesem Buch-Film-Vergleich kommt es zu Spoilern![/tds_warning]

Kurz vor Schulbeginn zieht die neunjährige Coraline (gesprochen von Dakota Fanning) mit ihren Eltern (Teri Hatcher & John Hodgman) in ein abgelegenes Haus auf dem Land. Dieses wird ebenfalls von dem Mäusetrainer Mister Bobo (Ian McShane) und den beiden ehemaligen Showgirls Miss Spink (Jennifer Saunders) und Miss Forcible (Dawn French) bewohnt. Die drei exzentrischen Persönlichkeiten haben große Probleme damit, Coralines Namen richtig auszusprechen, worauf Coraline sie immer wieder hinweisen muss. Da ihre Eltern ständig mit arbeiten beschäftigt sind und Coraline beinah vor Langeweile umkommt, macht sie sich auf eine Erkundungstour durchs Haus. Dabei stößt sie auf eine seltsame, zugemauerte Tür.

Als Coraline eines Tages allein zu Hause ist, findet sie hinter der vorher eigentlich zugemauerten Tür einen dunklen Gang, der sie in eine Wohnung führt, die eins zu eins der ihren gleicht. Hier erwarten sie ihre anderen Eltern, die ihren echten beinah bis aufs Haar gleichen, anstatt Augen jedoch Knöpfe haben. Alles scheint perfekt hier und viel besser als in ihrer Realität. Für Coraline allerdings zu perfekt. Sie wird schnell misstrauisch und will dem Ganzen auf den Grund gehen.

Die Figur der Coraline

Gaiman konzipierte Coraline 2002 als neugierig, selbstbewusst und einfallsreich. Die Geschichte zeichnet das Bild von Kindern als selbstständige Personen, die ihre Probleme auf ihre eigene Art und Weise lösen und keineswegs unfertige Erwachsene sind.

Dies scheint der Film zu vergessen, denn während Coraline im Buch der anderen Welt und ihren Bewohnern stets misstrauisch gegenübersteht, lässt sich ihr Gegenstück im Film gleich von Beginn an von den Trugbildern der anderen Mutter blenden. Größtenteils wirkt die Film-Coraline eher naiv und wie ein Spielball der Ereignisse. Ihre weiteren Charaktereigenschaften machen sie im Film zudem nicht gerade sympathisch. Sie ist arrogant, herablassend und ständig von allem genervt. Verdreht Coraline im Film bei jeder Aussage von Erwachsenen gleich die Augen, tritt die Buchversion Erwachsenen mit einer nicht unterwürfigen, aber dennoch angebrachten Höflichkeit gegenüber.

Die anderen Figuren

Während ihres Abenteuers begegnet Coraline einigen mal mehr, mal weniger seltsamen Gestalten. Allgemein nehmen alle Figuren im Film dieselben Rollen ein wie im Buch. Die Unterschiede sind größtenteils gering, bis übersehbar. Zwei Charaktere fallen dabei aber mehr auf als die anderen: Wyborne und der Kater.

Wyborne existiert im Buch nicht und wurde einzig für den Film geschaffen, um einerseits Coralines Selbstgesprächen einen Zuhörer zu geben und andererseits, um männlichen Zuschauern eine Identifikationsfigur zu geben. Wyborne wirkt größtenteils eher wie ein Fremdkörper, der ab und zu mal auftaucht, um an Coralines Seite zu sein und sonst nur als Prügelknabe für ihren Frust herzuhalten.

Auf den ersten Blick könnte man meinen, dass der schwarze Kater im Film seinem Buch-Gegenstück sehr ähnlich ist. Jedoch fehlen einige der witzigen und geistreichen Dialoge, die zum Nachdenken anregen. Zudem geben sie dem Kater einen Charakter und lassen ihn nicht nur wie ein Mittel zum Zweck wirken, der nur auftaucht, wenn er gebraucht wird.

Der Horror

Bis auf die Darstellung der anderen Mutter ist der Horror im Film eher skurril und zu abstrakt, als dass er wirklich gruselig ist. Der Horror ist wie ein pompöses Feuerwerk, das der Film immer wieder abfeuert. Währenddessen fußt der Horror im Buch auf nachvollziehbaren Ängsten: das Monster im Keller, Insekten und Kindesmisshandlung.

So sieht sich Film-Coraline bei der Suche nach den Kinderaugen – im Buch sind es die Seelen der toten Kinder – im Theater der anderen Miss Spink und Miss Forcible einem großen Bonbon gegenüber, in dem zwei quietschbunte Zuckerfiguren schlafen. Im Buch steht Coraline in derselben Szene vor einem Sack „ähnlich dem Kokon, in dem Spinnen ihre Eier ablegen“. Allein diese Formulierung löst beim Lesen unangenehme Bilder aus und die Tatsache, dass Coraline dort hineinfassen muss, lässt über verschiedene unheimliche Szenarien fantasieren, was nun passieren könnte.

Gaiman spielt in seinem Buch mit Bildern und Assoziationen, die bei den Lesenden Urängste auslösen sollen. Während der Film den Zuschauenden seinen skurrilen, eher komischen Horror in bunten Bildern auf die Nase drückt, ist das Buch subtiler, traut seinen Lesenden mehr Grusel zu, ohne jedoch seine Stellung als Kinderbuch zu vergessen.

Schöne, bunte Welt?

Studio Laika, das neben „Corpse Bride“ auch „Kubo“ in feinster Stop-Motion-Manier erstrahlen ließ, zeigt auch bei „Coraline“, wie gut es sein Handwerk versteht. Allein die Gartenszene ist ein wahrer Augenschmaus. Zudem sitzt mit Henry Selick der Regisseur von „Nightmare before Christmas“ auf dem Regiestuhl.

Dennoch hat diese Farbenfreude auch einen leichten Beigeschmack von Style-over-Substance. Ähnlich wie bei der Verfilmung von „Der Zauberer von Oz“ aus dem Jahr 1939, wo die Macher anhand von Dorothys strahlendroten Schuhen – die im Original eigentlich silbern sind – den Sprung vom Schwarz-weiß- hin zum Farbfernsehen zeigen wollten.

Gaimans Geschichte im Buch bietet zwar auch einige fantastische Elemente, schafft es jedoch, sich nicht darin zu verlieren. Allgemein wirkt das Buch bodenständiger und nachvollziehbarer, sodass die andere Welt den Eindruck erweckt, wirklich zu existieren und nicht nur ein Traum zu sein.

Horror für Kinder

Nun stellt sich die Frage, ob es nicht besser gewesen wäre, wenn man den Horror aus dem Buch einfach visualisiert hätte. Wäre es zu heftig gewesen, beispielsweise ein riesiges, haarloses und bleiches Schneckenwesen in einem düsteren Keller darzustellen, das ein kleines Mädchen durch einen engen Gang verfolgt, um es zu verschlingen? Würden 6-jährige Kinder diese Bilder verkraften? Sie würden sehen, dass Coraline entkommt und dass sie Mitleid mit jenem armen Wesen hat, das einmal ihr anderer Vater gewesen war.

Horror für Kinder sollte mehr sein als ein bunter Geisterbahnhorror. Er sollte sie ernst nehmen und herausfordern sowie auch Angst machen, jedoch stets auch zeigen, dass man ihn überwinden kann. Dies tut das Buch, während der Film ihnen kurzweilige, konfettiähnliche Buh!-Effekte ins Gesicht wirft, was ebenso viel Mehrwert hat, wie das SKELETT IM SCHRANK!

Horror vom Feinsten gegen seine Verfilmung

Das Buch „Coraline“ ist ein wunderbares Werk Horrorliteratur, das nicht nur für Kinder geeignet ist. Einerseits schafft das Buch es, subtil einen unheimlichen Schauer und Grusel zu erzeugen und dennoch durch seine Protagonistin dazu zu inspirieren, mutig zu sein, auch wenn man Angst hat. Daneben werden noch einige interessante Figuren, gepaart mit geistreichen sowie witzigen Dialogen geboten.

Dagegen ist der Film ein Sinnbild dessen, was die Geschichte unter anderem anprangert: Lass dich nicht von Dingen blenden, die zu gut erscheinen. Denn schaut man hinter diese optisch beeindruckenden Effekte, fällt jenes wackelige Konstrukt, das sich aus Versatzstücken des Buches zusammensetzt, schnell in sich zusammen. Die Figuren, darunter Coraline selbst, wirken eher unsympathisch und teilweise farblos, das Gefühl von Style-over-Substance und kaum wirklicher Grusel überwiegt.

Neil Gaiman meinte einmal, an der Verfilmung von „Coraline“ störe ihn am meisten, dass Coraline am Schluss von Wyborne gerettet werden muss. Dies ist nachvollziehbar, denn es verwandelt die eigentlich selbstbewusste und kluge Protagonistin in ein Klischee der Damsel in Distress, was ihr jegliche Kontrolle nimmt und ihre Figur erneut zum Spielball der Ereignisse werden lässt.

Coraline. Neil Gaiman. Übersetzung: Cornelia Krutz-Arnold. Arena Verlag. 2003. BK-Altersempfehlung: ab 6 Jahren.

Coraline. Regie & Drehbuch: Henry Selick. u.a. Mit: Dakota Fanning, Keith David, Ian McShane u.a. Universal. 2009. FSK 6.

Adrian Ziebarth

Adrian Ziebarth

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