Herz hinter Stacheldraht

von | 08.11.2017 | Kreativlabor

Vom Panoramafenster aus beobachtet Aki in weiter Ferne einen explodierenden Stern. Bräunliche Kometen schweifen nebst schillernden Partikeln links und rechts an seiner Raumblase vorbei. Sie erinnern ihn an die Fischschwärme in den Ozeanen seines Heimatplaneten, der von den Deltaweltlern gesprengt worden war. Seither lebt ein kleines Grüppchen Überlebender auf dem Generationenraumschiff Haaaf-O-Noo, das den lila Wesen aus der Deltawelt gehört.
Die Auseinandersetzung mit den Deltaweltlern hat 2103 begonnen. Aki wühlt in der Schublade unter dem runden Tisch vor dem Panoramafenster und nimmt eine alte Erd-Enzyklopädie zur Hand. Es dürfte das letzte Exemplar sein. Er muss es vor einer bestimmten Fraktion intellektueller Außerirdischer verbergen, die solche Bücher gern in ihren geheimen Privatsammlungen sähen.
Er blättert in dem Lexikon herum und stoppt auf der Seite des Sternenkrieg-Konflikts.

„Sternenkrieg-Konflikt“ nennt man die Konfrontation zwischen den Machthabern der Erde und denen vom Planeten Delta-X. Sie stehen sich aufgrund interstellarer Gebietsstreitigkeiten feindlich gegenüber, was zur wechselseitigen Aufrüstung führt.
Nur durch die Aufklärung aller Bürger mittels Sprachkursen und neuer, verkürzter Studiengänge in „Extraterrestrische Diplomatie“ kann der Sternenkrieg-Konflikt dauerhaft beendet und eine weitere Verschärfung verhindert werden.

„Wir kommen in Frieden!“ — Eine Farce schlechthin. Der Satz löst in Aki im Nachhinein noch Bauchkrämpfe aus.
Diese komischen Wesen mit ihrer dunkel-lila schimmernden Haut und ihren unschuldigen Gesichtern machen ihn wahnsinnig, ihre riesigen schwarzen Augen, die sie als Waffe einsetzen, ekeln ihn an!
Einmal musste Aki mit ansehen, wie ein Lilagesicht einen Menschen regelrecht zu Tode starrte. Der Mann zitterte, konnte aber seinen Blick nicht von den Augen des Deltaweltlers abwenden. Danach kam dieses Ereignis in Akis Enklave zur Sprache. Ihm wurde erklärt, dass die Pupillen der Lilanen sich erweitern, bis sie das Auge ganz ausfüllen. Im zweiten Schritt setzen sie das Opfer seinen größten Ängsten oder schlimmsten Traumata aus. Horror und Grauen steigern sich so lange, bis der emotionale Druck zu viel wird. Was dann passiert, hatte Aki live beobachtet. Ihn fröstelt. In solchen Momenten vermisst er seine Heimat besonders. Die Felder, den Stacheldrahtzaun darum. Klare Regeln.

Die Lilanen wollten ihm einreden, dass er Glück gehabt hatte, weil sie ihm Asyl gewährten. Die Auswahl, wer überlebte und wer mit der Erde unterging, oblag dem Delta-X-Oberhaupt. Aki weiß bis heute nicht, welche Kriterien zu jener Zeit eine Rolle spielten. Es war nur offensichtlich, dass mehr Afrikaner gerettet wurden als Europäer, Asiaten oder Amerikaner.
Aber was ist schon Glück? Damals stand er an einem ähnlichen Panoramafenster und musste zusehen, wie seine Heimat, Afrika, einfach explodierte. Die Trümmer der Erde waren tagelang im All umher geschwebt und hatten das Raumschiff eine Weile begleitet.
Akis Mutter steht auf einmal in der Raumblase und ruft ihn: Chuckwuma. Sanft und ein bisschen wehmütig. Aki blinzelt sie schnell weg.
Von einigen Deltaweltlern schreit den Menschen fast nur Verachtung entgegen. Viele davon sind extrem gewaltbereit. Und das, obwohl die Obrigkeit einerseits versucht, aus den Neuen gehorsame Deltaweltler zu machen, andererseits viel Einwohneraufklärung betreibt.
Aki ist froh, ihre Laute schnell erlernt zu haben, denn so kann er nicht nur Wissen aus Büchern erlangen, sondern auch die Nachrichten verfolgen. In der Delta News Hologrammzeitung, die einen nicht gerade geringen Einfluss auf die Politik und Gesellschaft der Deltawelt ausübt, las er jüngst einen aufschlussreichen Artikel. Das Blatt nennt diese Gewaltakte gegen Menschen den neuen Pragmatismus. Die Erdmenschen seien den meisten Deltaweltlern total egal. Auf einen mehr oder weniger käme es nicht an.
Aki selbst hat diese pragmatische Einstellung selbst zu spüren bekommen, bevor jemand davon in Zeitungen schrieb. Vor ein paar Jahren war eine geliehene Raumkapsel bei einem Ausflug mit seiner Freundin Yolo kaputt gegangen und Aki musste auf einem der verteufelten Delta-X-Monde notlanden. Während er an der Kapsel herum schraubte, ging Yolo bis zum nächsten Gebäude, um Hilfe zu bekommen. Dieses Hilfsgesuch hatte in einem Laserstrahlstakkato geendet, weil der Besitzer des Grundstücks sich bedroht fühlte. Aki sah von seiner Position aus, wie die Waffe die Umgebung erhellte. Er rannte sofort los. „Oh, Gott! Yolo!“ Aki rannte und rannte. Aber als er endlich an dem Haus ankam, war sie bereits tot. „Warum?“ Er brach neben Yolo zusammen, nahm sie noch ein letztes Mal in die Arme. Den Geruch von verbranntem Fleisch würde er nie vergessen. Eine Träne läuft ihm über die bartlose Wange.

Damals, nach Yolos Tod, überlegte Aki, wie man der Drecksgesellschaft der selbstverliebten Deltaweltler einen Denkzettel verpassen könnte. Die Raumblase hat durch den Blick ins All etwas Machtvolles an sich, etwas Göttliches. Aki bekommt hier seine besten Einfälle. Am Anfang waren die Geistesblitze eher zufällig und ziemlich undurchsichtig, aber nach einer Weile hat er gelernt, sie richtig zu deuten. Damit taten sich ungeahnte Möglichkeiten auf.
Seit einigen Wochen hat er an seinem Masterplan gefeilt. Aki konnte eine durchaus motivierte Gruppe von Erdenbrüdern und -schwestern dazu überreden, ihm zu helfen. Er muss natürlich bei Neulingen höllisch aufpassen, wem er vertraut. Es dürfen sich keine Ratten zu den konspirativen Treffen in der Raumblase einschleusen.
In den letzten Monaten hat Aki in diversen Enklaven ein Netzwerk von revolutionären und – weitaus wichtiger – gut lenkbaren Kameraden aufgebaut, die Bereitschaft zur Zusammenarbeit zeigen. Bald schon wird es soweit sein! Zu seinem privaten Jüngsten Gericht werden sie vereint die Kontrollzentren der Enklaven, aber auch andere Unterkünfte einflussreicher Deltaweltler angreifen und blutige Aufstände schüren. Ausgemusterte Lasergewehre sind im Vorfeld gesammelt und frisiert worden. Ein paar Raumgleiter für den Notfall stehen ihnen auch zur Verfügung. Es kann also technisch so gut wie nichts schief gehen. Sie sind mittlerweile genug Leute, um die Lilagesichter zu überwältigen.
Er als sozialpsychologisches Genie weiß ganz genau, dass das Einigungsgefühl wichtig für diese Unternehmung ist. Alles muss unter seiner Kontrolle bleiben. Aki besitzt genügend Autorität. Wenn der Plan aufging, würde er selbst die Macht übernehmen. Mit ihm an der Spitze des Staates hätten die Deltaweltler keine Extra-Rechte mehr, sie müssten selbst in die Enklavengebiete und ihre eigenen Unterdrückungs-Ideen kosten. „Ich werde dich rächen, Yolo! Und alle anderen unschuldig Verstorbenen auch! Dann werden sie mir dankbar sein und -“
Als ein Kratzen an der Tür hörbar wird, zuckt Aki zusammen. Das Erd-Buch! Es muss zurück in die Schublade! Gerade, als er die Enzyklopädie verstaut hat, fliegt die Tür mit einem lauten Krachen aus den Angeln. Aki beobachtet kleine Metallspäne, die in Zeitlupe in den Raum katapultiert werden. Sein Schutzort wird abrupt durch Eindringlinge entweiht und er hat nicht mal eine Waffe zur Verteidigung.
Drei Cyborgs stürmen herein. Sie stellen sich um ihn herum auf und legen ihm ihre mechanischen Hände auf die Schulter. Eine Deltaweltlerin in einem schneeweißen Anzug betritt den Raum, bleibt vor Aki stehen, betrachtet ihn einen Moment lang schweigend und schüttelt den Kopf. „Ich hatte gehofft, du würdest es lernen.“
Aki weiß, er sitzt in der Falle. Doch wer hatte ihn verraten? Der schlafende Wachmann konnte unmöglich wissen, wer ihm den Schlüssel Woche für Woche für die Raumblase entwendet. Dafür ist Aki zu vorsichtig. Einer seiner Kameraden? Wer? Wo hat er nicht aufgepasst? Er zwingt sich, ruhig zu bleiben.
„Chuckwuma …“, beginnt die Lilafrau, während Aki auf den Boden starrt. Ihr süßliches Parfüm lässt seinen Kopf sofort schmerzen, doch er muss fokussiert bleiben.
„Kannst du dir denken, warum ich hier bin?“
Er zuckt mit den Schultern. Seine Finger verkrampfen sich.
„Möchtest du immer noch den Aufstand proben?“
Er vermeidet es, ihr in die Augen zu sehen und knirscht mit den Zähnen. „Ich weiß nicht, wovon Sie sprechen.“
Die Deltaweltlerin seufzt. Einer der anderen Typen, ein wirklich hässlicher Cyborg mit gelben Neonstreifen an den Armen beugt sich zu ihr hinüber und fragt blechern: „Frau Dr. Fryyd, sollen wir ihm dieselbe Dosis wie immer geben?“
Das Lilagesicht nickt. „Ja, geben Sie ihm die übliche Menge und erstellen Sie ein Diagramm seiner Deltawellen.“ Sie geht ein Stück vom Tisch weg.
Aki schreit, als die anderen Cyborgs ihn festhalten und der unansehnliche Dritte die angekündigte Injektion in seine Vene spritzt. Die Anzugfrau kommt wieder näher. Sie starrt ihn unheimlich an. Das Schwarz ihrer Pupillen dehnt sich aus.
Kalter Schweiß steht Aki auf der Stirn, während er sich am Stuhl festklammert. Ihm ist klar, was nun passieren wird: Die Erde explodiert im Sternenfeuer! Wieder und wieder und wieder. Eine Vorstellung der Extraklasse! Danach wird nur noch Schwärze existieren. In seinem Herzen. In seinen Gedanken. Überall.
Ihre monotone Stimme durchdringt das Chaos, das die Spritze in Akis Kopf hinterlassen hat. „Bitte bringt ihn zurück auf Station. Am besten verlegen wir ihn dauerhaft in die Geschlossene. Es muss sichergestellt werden, dass er nicht noch ein weiteres Mal ausreißt.“
„Sie werden nicht gewinnen! Meine Freunde helfen mir, warten Sie es ab, harren Sie unserem Jüngsten Gericht! Dieses Mal ist es soweit! Sie greifen in dem Moment die Enklaven an“, platzt es mit letzter Kraft aus Aki heraus.
Unsanft wird er von den Cyborgs hochgestemmt und zum Ausgang gebracht.
Aki spürt, wie er müder wird.
Fryyd lächelt an der Tür. Sie klopft ihm auf die Schulter. „Dieses Mal nicht, mein Freund, dieses Mal nicht.“

June Is, Twitter: @ypical_writer
Foto: Buchstaplerin Maike

Ein Beitrag zum Projekt 100 Bilder – 100 Geschichten – Bild Nr. 27.

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3 Kommentare

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    Das ist er also. Der Siegertext. Hm. Leider sagt er mir persönlich nicht sonderlich zu, zumal er mehr Fragen als Antworten hinterlässt. Leider passiert mir das bei Texten von June öfter.

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    Beklemmend schön. Verdienter Sieg!

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  3. Avatar

    Perur deine Aussage ist für mich leider nicht nachvollziehbar der Text läd gerade so dazu sein Lust zu bekommen ein wenig in die science-fiction Welt einzutauchen. Ich kann mich hier nur meinem Vorredner anschließen ein absolut verdienter Sieg und ich freue mich mehr davon zu lesen

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