Handwerker des Unerwarteten: Morgen mehr

von | 11.02.2017 | Buchpranger

Mit seinem sogenannten Literaturdings „Morgen mehr“ war Tilman Rammstedt am Sonntag im Rahmen der LiteraTour Nord zu Gast im Bremer Café Ambiente. Hier sprach er über die Entstehung seines Romans im online-Experiment, und darüber, warum das nicht alles und schon gar keine Entschuldigung für irgendetwas ist. Worteweberin Annika war dabei.

Das Schreibexperiment

Die Entstehungsgeschichte von „Morgen mehr“ ist außergewöhnlich: Drei Monate lang schrieb der Autor Tilman Rammstedt täglich ein Kapitel, circa vier Seiten im Durchschnitt. Wer dabei zusehen wollte, konnte durch ein kostenpflichtiges Abo jeden Tag den neuen Abschnitt per E-Mail oder WhatsApp-Nachricht erhalten, inklusive eines Selfies des mal mehr, mal weniger verzweifelten Schriftstellers. Lange wusste der dabei nicht mal, wie seine Geschichte eigentlich ausgehen sollte. „Das ist wie eine Reise, bei der man nicht weiß, wohin sie gehen wird. Man packt von allem etwas in den Koffer“, erklärt Rammstedt während der Lesung. Nach dieser Strategie packte er anfangs seine Geschichte voll mit Ideen und Strängen und war später verblüfft, dass er sie auch alle gebrauchen konnte. Da nach der Schreibphase noch fünf bis sechs Wochen zur Verfügung standen, um den Text zu überarbeiten, hätten sich mögliche Fehler im Nachhinein aber auch beseitigen lassen.

Fragt sich, ob das Schreiben sich trotzdem verändert, wenn man einerseits ständig beobachtet wird, gleichzeitig aber auch jeden Tag in der Pflicht steht, ein Publikum zu unterhalten. Wird man da nicht zu einem Handwerker des Unerwarteten, zu jemandem, der um jeden Preis originell sein will? Rammstedt selbst hält es für möglich, dass die Schreibsituation die Dynamik seines Schreibens beeinflusst haben könnte. Zum Beispiel habe er häufig mit Cliffhangern gearbeitet, wenn sich ihm Fragen gestellt hätten. Am nächsten Tag habe er dann versucht, genau diese zu beantworten. Das habe allerdings nicht immer gleich gut geklappt, so erzählt Rammstedt davon, dass er einmal noch spät abends keine Idee gehabt habe. Seine Lösung dafür war schließlich ein kurzer Text mit einer langen Überschrift über die eigene Ideenlosigkeit. Ein Text übrigens, der sich im gedruckten Roman nicht wiederfindet.

Was dahinter steht

Durch den Druck und die Veröffentlichung als Buch ist „Morgen mehr“ vom Literaturdings, wie es auf der Verlagsseite bezeichnet wird, zum „richtigen“ Roman geworden. Mit dem Wissen um die Entstehungsgeschichte erscheint es im ersten Moment dennoch ungewöhnlich, vielleicht sogar unbedacht, dass auf der Buchausgabe von „Morgen mehr“ kein Hinweis auf das Schreibexperiment zu finden ist. Tut man etwa so, als wäre das ein ganz normaler Roman? Ja, das tut man, erklärt Tilman Rammstedt dem Moderator der Lesung, Literaturprofessor Axel Dunker. Und warum auch nicht? Alle seine bisherigen Romane habe er bis jetzt unter großem Zeitdruck und nur mit einer vagen Grundidee als Ausgang verfasst. Deswegen sei „Morgen mehr“ für ihn nicht nur ein Experiment, sondern schlicht und einfach sein neuer Roman. Ein Label hätte da nur wie eine Entschuldigung gewirkt, findet der Autor.

Auf dem Weg ins Leben

Daraus nehmen wir mit: „Morgen mehr“ ist mehr als nur ein Experiment; es ist nicht nur seine Entstehung, sondern auch ein Werk an sich. Grund genug, einen Blick auf den Inhalt zu werfen (bei jedem „normalen“ Roman hätten wir das schließlich schon längst getan): Ein Mann mit Liebeskummer steht in Frankfurt kurz davor, mit einbetonierten Füßen im Main versenkt zu werden, während sich eine Frau in Marseille ein blaues Auge schlagen lässt. Ungefähr ist das die Ausgangssituation, in die der noch ungezeugte Ich-Erzähler mit seiner Geschichte einsetzt.

Wie aus den beiden Menschen, die sich noch nicht einmal kennen, in den nächsten 24 Stunden seine Eltern werden, das berichtet er in „Morgen mehr“ auf humorvolle, aber auch tiefgründige Weise. Das Erzählen selbst ist im Roman sehr ausgestellt, der Erzähler nimmt zum Beispiel Bezug auf die Kapitelstruktur des Textes. Und auch das Impressum des Romans (ungewöhnlicherweise hinten zu finden) spiegelt noch die Inhalte. Daran schließt sich ein auf gelben Seiten gedrucktes Schaltkapitel an, das ähnlich einer Schaltsekunde nach dem Ende weitere Informationen liefert. Der Autor erzählt, er habe damit die Möglichkeiten der Literatur ausnutzen und mit ihnen spielen wollen und stelle sich damit in die Tradition von Laurence Sterne und anderen.

Die Lesung

In das alles bekam das Publikum im Café Ambiente durch die zweigeteilte Lesung des Autors einen Einblick. Vorgestellt wurden Szenen zum Beginn des Romans, aber auch ein Kapitel kurz vor dem großen Show-Down in Paris, bei dem der Ich-Erzähler bis zur letzten Sekunde darauf hofft, gezeugt zu werden. Die ausgewählten Passagen sorgen für viele Lacher unter den Zuschauenden und machen neugierig. Während der gesamten Lesung zeigt sich der Autor sehr sympathisch, reagiert ausführlich auf die Fragen des Moderators, aber auch auf alle Publikumsfragen. Eine Lesung sei ja schließlich nicht nur eine Verkaufsveranstaltung, sagt er auf eine Frage. Dass er das beherzigt hat, zeigt sein Auftreten im Café Ambiente.

Die Lesung und der Roman von Rammstedt machen Lust auf mehr – vielleicht morgen? Hinter seiner Entstehungsgeschichte braucht sich Tilman Rammstedts „Morgen mehr“ jedenfalls nicht zu verstecken. Schön wäre es, wenn er auch von anderen nicht komplett dahinter versteckt würde. Auch wenn das nicht so einfach ist, Experimente sind schließlich spannend! Trotzdem hätten einige Fragen mehr zum Roman selbst und einige weniger zu dessen Entwicklung der Lesung wahrscheinlich nicht geschadet.

Morgen mehr. Tilman Rammstedt. Hanser. 2016.

Bücherstadt Magazin

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Das Bücherstadt Magazin wird herausgegeben vom gemeinnützigen Verein Bücherstadt. Unter dem Motto "Literatur für alle!" setzt sich die Redaktion mit der Vielfalt der Literatur im Sinne des erweiterten Literaturbegriffs in verschiedenen medialen Aufbereitungen auseinander.

1 Kommentar

  1. Avatar

    Sehr schöner Text über ein klasse Buch. Mich konnten Werk, Autor und Lesung begeistern und ich kann „Morgen mehr“ jedem ans Herz legen. Für mich auch der Sieger der LiteraTour Nord – wenn es auch ein hartes Kopf-an-Kopf-Rennen mit Benedict Wells „Vom Ende der Einsamkeit“ war.

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Trackbacks/Pingbacks

  1. LiteraTour Nord 2016/17: Ein Rückblick – Bücherstadt Kurier - […] ähn­li­ch über­schwäng­li­che Pu­bli­kums­re­so­nanz er­zeu­gen wie Rammstedts „Mor­gen mehr“. Im An­schluss an sei­ne Le­sung si­gnier­te Wells noch für gut 1 ½…

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