Geschichten vom kleinen Nachtwächter

von | 12.12.2019 | #litadvent, Kreativlabor, Specials

Wer bin ich?

Ich bin der kleine Nachtwächter, und seit vielen, vielen Jahren gehe ich in der Nacht durch mein Städtchen, um nach dem Rechten zu schauen. Ich ziehe mir Mantel und Stiefel an, setze meinen Hut auf, nehme Spieß und Laterne zur Hand, und dann geht es los:

Als Erstes verschließe ich die Stadttore, um ungebetene Gäste fernzuhalten, dann zünde ich nacheinander alle Straßenlaternen an, und während ich durch jede Straße und Gasse laufe, schaue ich in alle Winkel und Ecken, um zu sehen, ob sich Diebe oder Strolche im Städtchen versteckt haben. Wenn dann die Kirchturmuhr zehn Mal zur Nacht geschlagen hat, rufe ich ganz laut, so dass mich alle hören können: „Liebe Leute, lasst Euch sagen, die Uhr hat zehn Mal zur Nacht geschlagen! Ich bin auf der Hut, in der Stadt ist alles gut – es ist kein einzig Dieb zu sehn, Ihr Leute könnt jetzt schlafen gehen!“

Dann sind alle Menschen im Städtchen beruhigt und schlafen tief und fest in ihren warmen Betten. Ich gehe weiter Stunde um Stunde durch mein Städtchen, damit auch wirklich nichts passiert. Wenn am Morgen dann die Kirchturmuhr sechs Mal schlägt, rufe ich wieder ganz laut: „Liebe Leute, lasst Euch sagen, die Uhr hat sechs Mal zum Morgen geschlagen – alles raus aus den Federn und ohne zu zetern!“

Dann stehen alle Bewohner auf, machen Frühstück, und ein jeder geht an sein Tagwerk. Ich aber gehe nach Hause und lege mich schlafen. Und was soll ich Euch sagen – wenn ich so Nacht für Nacht durch mein Städtchen gehe, erlebe ich die tollsten Geschichten, von denen ich Euch jetzt einige erzählen möchte.

Der verlorene Nussknacker

Unser Städtchen liegt am Rande des Erzgebirges, nicht weit von der großen Stadt Dresden. In Dresden gibt es in der Adventszeit einen Weihnachtsmarkt. Nur nennen ihn die Dresdner nicht wie andere Städter Weihnachtsmarkt, sondern Striezelmarkt. In Dresden soll es die besten Backwaren geben. Man erzählt sich, dass ein Dresdner Bäcker irgendwann einmal ein Gebäck erfunden hat, das er Striezel nannte. Nach diesem Gebäck erhielt der Striezelmarkt seinen Namen und Striezel gab es nur dort zu kaufen. Doch es wurden dort nicht nur Striezel angeboten, sondern viele weitere Leckereien und schöne Dinge. Unter anderem auch Holzspielzeug aus dem Erzgebirge.

In einer bitterkalten Adventsnacht – das liegt natürlich schon wieder Jahre zurück – hörte ich ein herzzerreißendes Jammern und Zähneklappern vor dem Stadttor. Ich war bereits seit Stunden im Städtchen unterwegs, schon lange hatte ich zur Nachtruhe gerufen: „Liebe Leute, lasst Euch sagen, die Uhr hat zehn Mal zur Nacht geschlagen! Ich bin auf der Hut, in der Stadt ist alles gut – es ist kein einzig Dieb zu sehn, Ihr Leute könnt jetzt schlafen gehen!“

Ich wollte gerade meine Pause einlegen, um einen heißen Kräutertee zu trinken, als ich das Jammern hörte. Also schloss ich das Tor noch einmal auf. Zu meinem Erstaunen stand ein mitgenommener Nussknacker vor mir und klapperte mit seinen großen Zähnen. Er bot wirklich einen traurigen Anblick: Der linke Arm war weg, von seiner Krone fehlten mehrere Zacken, seine Beine schienen angebrochen und das Gesicht schaute völlig dreckverschmiert drein.

„Was ist denn mit dir passiert?“, fragte ich.
„Ich bin verloren gegangen“, antwortete der Nussknacker und ein paar Tränen rollten über seine Wangen.
„Komm doch herein, ich muss das Stadttor wieder verschließen.“
Der Nussknacker humpelte ins Städtchen. Ich schloss das Tor, nahm den hölzernen Gesellen in meinen Arm und ging in mein Häuschen.
„Jetzt koche ich uns erstmal eine gute Tasse Kräutertee. Dann kannst Du mir deine Geschichte erzählen.“

Beim Teetrinken beruhigte sich der Nussknacker und fing an zu berichten: „Hör zu, kleiner Nachtwächter“, sagte er. „Mich hat der Spielzeugmacher Meister Holzwurm gedrechselt. Seine Frau malte mich bunt an und seine Kinder haben mir einen Bart aus weichem Fell angeklebt. Ich sah wunderschön aus: schwarze Stiefel, gelbe Hosen, roter Mantel, und meine Krone glänzte golden. Du musst wissen, im Erzgebirge gibt es ganz viele Spielzeugmacher. Sie schnitzen und drechseln das ganze Jahr, und nicht nur Nussknacker – nein, auch Räuchermännchen, Tiere aller Art, Holzautos, Eisenbahnen, Bauklötzer und nicht zu vergessen die Weihnachtspyramiden. Nachdem alles bunt bemalt ist, wird es in große Körbe gelegt. In der Adventszeit schnallen sich die Spielzeugmacher die Körbe auf den Rücken und wandern nach Dresden. Auf dem Striezelmarkt verkaufen sie ihre Holzwaren. So war es auch bei mir. Meister Holzwurm hatte mich ganz oben auf den Korb gelegt. Auf seinem Weg nach Dresden fiel ich mitten im Wald aus dem Korb genau in eine Pfütze. Dabei ging mein linker Arm verloren. Von meiner Krone brachen vier Zacken ab und das Schlimmste: beide Beine waren angebrochen! Ich rief so laut ich konnte um Hilfe, aber Meister Holzwurm hörte mich nicht. Er ging einfach weiter. Mit meinen kaputten Beinen konnte ich ihm leider nicht folgen. So saß ich mutterseelenallein im Schmutz, mitten im dunklen Wald. Vor Angst begann ich zu zittern und mit meinen Zähnen zu klappern. Da kam aus einem Laubhaufen ein Igel angekrochen. Der fragte mich, warum ich so laut klapperte und ihn so aus dem Winterschlaf holte. Ich erzählte ihm, was passiert war. Daraufhin bot er mir an, mich in dieses Städtchen zu bringen. Der Weg sei nicht weit und außerdem gäbe es dort einen hilfsbereiten Nachtwächter. Und so bin ich bei dir gelandet.“

„Da hast du ja ein großes Abenteuer erlebt“, sagte ich und goss eine zweite Tasse Tee ein. „Nur gut, dass dich der Igel gehört und ins Städtchen gebracht hat. Das war Glück im Unglück! Nun hast du nichts mehr zu befürchten. Ich wasche dich erst einmal und lege dich dann schlafen. Während du schläfst, gehe ich wieder an meine Arbeit, und wenn ich am Morgen die Leute geweckt habe, bringe ich dich zum Tischlermeister Hobelspan. Der kann dich bestimmt reparieren und seine Kinder können dich neu anmalen, so dass du wieder richtig schmuck aussehen wirst.“
So ging ich erneute an meine Arbeit.

Am Morgen, nachdem die Kirchturmuhr sechs Mal geschlagen hatte, rief ich wie gewohnt: „Liebe Leute, lasst Euch sagen, die Uhr hat sechs Mal zum Morgen geschlagen – alles raus aus den Federn und ohne zu zetern!“

Ich löschte die Straßenlaterne und öffnete die Stadttore. Auf dem Nachhauseweg ging ich noch schnell beim Bäcker vorbei und kaufte frische Brötchen für das Frühstück. Zu Hause angekommen, kochte ich Kräutertee, deckte den Tisch und weckte den Nussknacker. Nach dem Frühstück nahm ich ihn unter den Arm und ging zu Meister Hobelspan. Ich erzählte ihm, was vorgefallen war, und er erklärte sich sofort bereit, den Nussknacker zu reparieren. Schon tags darauf sah er wie neu aus. Die Kinder von Meister Hobelspan gaben ihm den Namen König Knack-Knack und brachten ihn zur Gemüsehändlerin mit der Bitte, ihn doch in ihrem Obst- und Gemüsestand auf dem Weihnachtsmarkt aufzustellen. So könnten alle Kinder, die bei ihr Nüsse kauften, diese auch gleich dort knacken.

Seither steht König Knack-Knack jedes Jahr auf dem Weihnachtsmarkt und knackt bei der Gemüsehändlerin Nüsse für die Kinder.

Texte: Moro Rodefeld
Illustrationen: Anton Paul Kammerer

[tds_note]Ein Beitrag zum Special #litadvent. Hier findet ihr alle Beiträge. Die Texte „Wer bin ich?“ und „Der verlorene Nussknacker“ stammen aus dem Buch „Der kleine Nachtwächter erzählt“. Das Buch mit 24 Geschichten zur Adventszeit erschien 2015 in der edition claus.[/tds_note]

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