BIG BROTHER IS WATCHING YOU Gelungenes Hörbuch – misslungenes Vorwort

by Satzhüterin Pia

George Orwells Romane „1984“ und „Farm der Tiere“ gehö­ren zu den meist­ge­le­se­nen Büchern des 20. Jahr­hun­derts. Eine moderne Neu­über­set­zung der jewei­li­gen Romane wurde nun von Chris­toph Maria Herbst stim­mungs­voll ein­ge­le­sen. Satz­hü­te­rin Pia hat nach „Farm der Tiere“ nun „1984“ gehört und ist sich in einem sicher: Das Vor­wort hat Habeck versemmelt.

Der End­drei­ßi­ger Win­s­ton Smith lebt in einem tota­li­tä­ren Sys­tem, das sei­nes­glei­chen sucht: Es gibt kei­ner­lei Pri­vat­sphäre, statt­des­sen herrscht Über­wa­chung und Kon­trolle – immer und über­all. Tele­schirme über­wa­chen die Men­schen im eige­nen Zuhause, jeder Nach­bar ist grund­sätz­lich ein poten­zi­el­ler Spit­zel, die Kol­le­gin mög­li­cher­weise bei der Gedan­ken­po­li­zei, Neu­sprech gibt vor, wie dein Wort­schatz aus­zu­se­hen hat und das kryp­ti­sche Dop­pel­denk ist die Vor­aus­set­zung für ein Funk­tio­nie­ren die­ses Regimes. Kurz: Es muss schlicht­weg wider­spruchs­los alles geglaubt wer­den, was die Par­tei vorgibt.

„Es war ein hel­ler, kal­ter April­tag. Die Uhren schlu­gen dreizehnmal.“

Win­s­ton arbei­tet im Minis­te­rium für Wahr­heit und seine Arbeit besteht im Grunde darin, die Geschichte umzu­schrei­ben, sobald die Par­tei dies für not­wen­dig erach­tet. Ges­tern noch im Krieg mit Eura­sien, kann die heu­tige Wahr­heit schon sein, dass Ozea­nien sich im Krieg mit Ost­asien befin­det. Und alle Zeu­gen der Ver­gan­gen­heit müs­sen diese Wahr­heit stüt­zen – Zei­tun­gen, Bücher, jeg­li­che Mel­dung. Schon lange befin­det sich Win­s­ton inner­lich im Wider­stand mit dem tota­li­tä­ren Sys­tem und Lese­rin­nen und Leser – oder hier Höre­rin­nen und Hörer – ver­fol­gen in „1984“ sei­nen All­tag in die­sem dys­to­pi­schen Über­wa­chungs­staat, sei­nen Weg in den inne­ren und schließ­lich auch den äuße­ren Wider­stand. Am Ende kann das alles nicht gut aus­ge­hen: Win­s­ton wird gefan­gen genom­men, gefol­tert, einer Gehirn­wä­sche unter­zo­gen und … letzt­end­lich gewinnt die Partei.

„Ansich­ten über Wahrheit“

Zurück bleibt bei uns Zuhö­ren­den ein scha­les und beklem­men­des Gefühl. Auch nach über 70 Jah­ren, die seit der Erst­ver­öf­fent­li­chung von Orwells Dys­to­pie ver­gan­gen sind, ver­mag das Buch einen sol­chen Effekt zu haben und das ist letzt­end­lich gut so, heißt dies immer­hin, dass uns ein der­ar­ti­ger Über­wa­chungs­staat sehr fremd ist. Anders scheint das Robert Habeck zu sehen. Der Poli­ti­ker (Bünd­nis 90/Die Grü­nen) und Schrift­stel­ler hat für die Neu­über­set­zung ein Vor­wort unter dem Titel „Ansich­ten über Wahr­heit“ ver­fasst und für die Hör­buch­fas­sung selbst ein­ge­le­sen. Mit Ruhm bekle­ckert hat er sich mit die­sem Vor­wort weder als Poli­ti­ker noch als Schrift­stel­ler. „1984“ ist von Beginn an als poli­ti­sche Para­bel abge­stem­pelt wor­den und wurde sel­ten lite­ra­risch wert­ge­schätzt. Mit der neuen Über­set­zung von Lutz‑W. Wolff hätte dies nach­ge­holt wer­den kön­nen, statt­des­sen aber schreibt im Super­wahl­jahr ein Poli­ti­ker das „Vor­wort“ für die­sen Roman – und das ver­sem­melt er so richtig.

Ein Orwell­scher Albtraum

Im Mit­tel­punkt der Neu­über­set­zung sollte eben­diese ste­hen. In einer Rezen­sion über das Hör­buch, gele­sen von Chris­toph Maria Herbst, eben­die­ses. Bei­des ist gelun­gen, keine Frage. Aber bevor man zu dem Hör­buch gelangt, muss man als Höre­rin oder Hörer am Tür­ste­her Habeck vor­bei und des­sen Worte wir­ken las­sen. Ich ver­su­che kurz zu umrei­ßen, was das Pro­blem an die­sem Vor­wort ist:

Habeck ver­liert keine Zeit und steigt damit ein, dass Orwell „der Ana­ly­ti­ker des Tota­li­ta­ris­mus“ sei und igno­riert dabei geflis­sent­lich, dass das gar nicht wahr ist. Orwell hat nichts ana­ly­siert, son­dern ima­gi­niert, schrift­stel­le­risch auf­ge­ar­bei­tet und über­spitzt. Letzt­end­lich scheint Habeck das Vor­wort für die­sen Roman dazu zu die­nen, mit allem abzu­rech­nen, für das er nicht ste­hen will und sich selbst dabei kom­plett außen vor zu las­sen. Aber am Ende wird er in nichts wirk­lich kon­kret. Im Grunde ist sein Vor­wort ein Wirr­warr an kri­ti­scher Betrach­tung aller­lei aktu­el­ler Gescheh­nisse, für die er Orwells Roman instrumentalisiert.

Ein Griff ins Klo

China und tech­ni­sche Ent­wick­lun­gen hal­ten beim Thema Über­wa­chung her und mit der AfD hat er seine per­fekte Alle­go­rie für Geschichts­um­schrei­bun­gen gefun­den: „Wir erle­ben in die­sen Zei­ten ein orwell­sches Neu­sprech par excel­lence“, erklärt er pro­vo­ka­tiv und zieht Gau­lands „Vogel­schiss“ als Bei­spiel heran. Begriffe wie Trumps „alter­na­tive facts“ ste­hen laut Habeck für das orwell­sche Dop­pel­denk. Jeder ein­zelne sei­ner Ver­glei­che hinkt stark bis sehr stark. Rechte Poli­ti­ker und ihre Lügen – schauen wir doch nur auf gewisse kon­ser­va­tive Poli­ti­ker der USA oder diverse Mit­glie­der der AfD – haben mit einem „Minis­te­rium für Wahr­heit“, das die kom­plette Geschichte unwie­der­bring­lich umschreibt, nichts gemein.

Wenn ein Gau­land den Holo­caust als „Vogel­schiss“ in der Geschichte abtut, ist das eine voll­kom­men andere Unge­heu­er­lich­keit (Stich­wort Ver­harm­lo­sung), als die Neu­schrei­bung der Geschichte mit Aus­lö­schung der ursprüng­li­chen Wahr­heit. Und eine staat­li­che Über­wa­chung wie die der Dys­to­pie „1984“ mit tech­ni­schen Gege­ben­hei­ten von heute in einen Topf zu wer­fen, wirkt ein­fach nur anma­ßend. Seine ein­ge­floch­tene Kri­tik an Sozia­len Medien hat mit dem Roman Orwells dann sogar rein gar nichts mehr zu tun. Kurz: Die­ses Vor­wort wird sei­nem Anlass nicht gerecht, ist poli­tisch und schrift­stel­le­risch pro­ble­ma­tisch und miss­ver­steht George Orwells Roman grundlegend.

Neu­über­set­zung gelungen

Die Neu­über­set­zung von Lutz‑W. Wolff ist, wie auch bei „Farm der Tiere“, sehr gelun­gen. Begriffe, die in unse­ren Sprach­ge­brauch der­art eta­bliert sind, fin­den sich auch hier wie­der, ins­ge­samt hat der Text jedoch einen zeit­ge­mä­ßen und fri­sche­ren Anstrich bekom­men. Herbst als Spre­cher kann man ange­nehm fol­gen, seine Into­na­tion unter­stützt Gän­se­haut­mo­mente – ganz im Nega­ti­ven, denn ein Wohl­fühl­buch ist „1984“ sicher an kei­ner Stelle! Das macht aber rein gar nichts, denn das soll es auch nicht sein. Dass mir keine der Figu­ren sym­pa­thisch war, liegt jeden­falls nicht an Herbst. Ich möchte jeder und jedem Inter­es­sier­ten das Hör­buch gerne emp­feh­len – das Vor­wort könnt ihr euch aber getrost schenken.

1984. George Orwell. Über­set­zung: Lutz‑W. Wolff. Gele­sen von Chris­toph Maria Herbst. Ran­dom House Audio. 2021.

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