Gedankenstrom

von | 26.06.2015 | Belletristik, Buchpranger

Arthur Schnitzlers Novelle „Leutnant Gustl“ wurde erstmals 1900 unter dem Originaltitel „Lieutenant Gustl“ in der „Neuen Freien Presse“ veröffentlicht. Mit seinem Werk führte Schnitzler den Stil des inneren Monologs im deutschsprachigen Raum ein.

Wie der Titel bereits verrät, handelt sich bei dem Protagonisten um einen Leutnant. Nach einem Konzert wird dieser von einem Bäckermeister beleidigt, worauf sich der Offizier so sehr in seiner Ehre gekränkt fühlt, dass er keinen anderen Ausweg mehr sieht, als sich das Leben zu nehmen. Was würden nur die anderen von ihm denken? Nein, für ihn gibt es keinen anderen Weg – gleich am nächsten Tag um sieben Uhr will er sein Leben beenden. Ob der Bäckermeister diesen Vorfall bekannt machen wird oder nicht, spielt für Gustl keine Rolle.
Leutnant Gustl denkt und denkt: Von Anfang an erhält man einen Einblick in seine Gedanken, welche sich um Frauen, Juden – er befürwortet den Antisemitismus – und das Militär drehen. Das, was er sieht und fühlt, wird in Worte gefasst und monologisiert. Die Handlung der Geschichte erschließt man sich allein durch seine Eindrücke, die erst nach und nach zu einem Bild werden.
Der in der Ich-Form verfasste innere Monolog erinnert an den Bewusstseinsstrom („stream of consciousness“), einen von Tolstoi erfundenen Erzählstil, den er in einem Teil seines Romans „Anna Karenina“ verwendete. Berühmt für diese Technik ist unter anderem auch James Joyces „Ulysses“. Hier werden Gefühle und Gedanken aus subjektiver Sicht geäußert, auf Erklärungen und äußere Beschreibungen wird verzichtet. Man wird überladen von einem Strom an Wahrnehmungen und vermag sie aufgrund von fehlender Struktur auf Form- und Inhaltsebene nicht einzuordnen. Dieses Merkmal unterscheidet sich vom Stil in Schnitzlers „Leutnant Gustl“, in dem trotz Ellipsen eine gewisse Struktur vorhanden ist. Schnitzler greift demnach die Technik des Bewusstseinsstroms auf, ohne sie zu imitieren, und konstruiert einen Monolog, in dem sich ein Sinn ergibt.

Schnitzler erschafft in „Leutnant Gustl“ ein Zusammenspiel von innerem Monolog und Gesellschaftskritik, welche vor allem den Antisemitismus und das Militär thematisiert. Kaum verwunderlich ist deshalb, dass Schnitzler nach Veröffentlichung der Novelle auf harte Kritik seitens des Militärs stieß, das sich angegriffen fühlte. Anschließend wurde ihm der Offiziersrang aberkannt.

Ein empfehlenswertes Hörbuch findet sich auf vorleser.net, authentisch vorgelesen von Jeremias Koschorz.

Erfahrt morgen (27.06.15) mehr über Arthur Schnitzler und sein Werk „Leutnant Gustl“ bei den Feuilletönen! Klickt euch ab 11 Uhr rein auf www.feuilletoene.de/live.

Alexa

Lieutenant Gustl, Arthur Schnitzler, Sabine Wolf (Herausgeberin) Reclam, 2013;
Erstveröffentlichung: Neue Freie Presse (heute: Die Presse), 1900 

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