Ganz so einfach ist es nicht!

von | 24.05.2021 | Bilderbücher, Buchpranger

Nicht erst seit der Erfindung des Internets haben wir unterschiedliche Weltanschauungen, aber es scheint mir, als würden wir uns auch im 21. Jahrhundert besonders verbissen über Ansichten streiten. Im Bilderbuch „Der Berg“ von Rebecca Gugger und Simon Röthlisberger wird dem schwierigen Thema der Meinungsverschiedenheit mit beachtlicher Leichtigkeit begegnet. – Von Seitenkünstler Aaron

Die farbigen Illustrationen passen hervorragend zum Text: Sie sind aufregend, abwechslungsreich bei gleichbleibendem Stil und sie portraitieren gekonnt die fabelhaften Charaktere in dieser Tiergeschichte. Aus vollen Registern gezogen ergänzen sich Karikatur und Natur der Figuren und Grafik und Textur in den Kulissen. Das Ganze ist derart feinsinnig eingefärbt und kommt im Druck so gut zur Geltung, dass ich mir das Wort „perfekt“ nicht verkneifen kann. Dieser Eindruck entsteht gestützt durch das ebenso durchdachte Layout, das die Balance zwischen Illustration und Schrift mit großzügigen Zugeständnissen für beide Elemente in einem aufregenden Zusammenspiel wahrt.

In diese Form gebettet entwickelt sich eine Geschichte einer Bergbesteigung durch sechs Tiere, die sich darüber streiten, wie oder was der Berg überhaupt sei. Auf dem Gipfel und Höhepunkt der Geschichte finden die Berginselbewohner schließlich ihren Frieden mit den Worten „Eigentlich ist es ganz einfach“, denn von oben können sie alle Biotope des Berges auf einmal sehen.

Eigentlich ist es nicht ganz einfach

Das Ende ist nur scheinbar deutungsoffen und impliziert eine bestimmte Botschaft, die im ersten Teil des Buches detailliert aufgebaut wird. Doch ganz so einfach ist es nicht, wenn wir uns mit der Vielfalt der Erfahrungswelten in dieser Geschichte auseinandersetzen. Logische Probleme bleiben nach wie vor bestehen: Wo haben sich die Tiere denn gestritten, ohne dass der Oktopus nicht zumindest sein Habitat verlassen und die anderen Lebensräume sehen konnte? Konnte der Hase, der ja „auf dem Berg“ lebt, nicht vorher auch schon herunterblicken? Wie sieht denn eigentlich sein Weg auf den Berg aus, wenn er doch auf dem Berg lebt? Und warum klettert die Ameise nicht auf ihren Ameisenhügel, den sie als „de[n] Berg“ bezeichnet, sondern stattdessen ohne Einwände auf das, was die anderen Tiere als Berg bezeichnen?

Indem (zumindest am Ende dieses Buches) jede Ansicht über den Berg zumindest als Teil des Ganzen legitimiert wird, werden logische Fehler und Missverständnisse zugunsten einer implizierten einfachen, heilen Welt unter den Tisch gekehrt. Das bereitet einen Nährboden für den gefährlichen Umkehrschluss, dass absolut jede Meinung richtig oder Teil des Ganzen sein kann, nur weil sie sich von den Ansichten anderer unterscheidet. Damit wird die Geschichte problematisch, ohne überhaupt Themen einzubeziehen, die sich in einer zeitgenössischen Lesart nahezu aufdrängen. (Gemeint sind unzuverlässige Erzählstimmen, absichtliche Lügen oder gar Verschwörungsmythen.)

Gekonnt und gewagt

„Der Berg“ ist nicht einfach nur eines dieser optisch wohlgefälligen Bilderbücher, die der NordSüd Verlag veröffentlicht. Es ist erstaunlich, wie viele Fragen sich an das Buch anschließen und welche Grundlage es damit für eine Diskussion über Wissen und Irrglauben bietet.

Wer viel macht, kann auch viel falsch machen: Was inhaltlich auf der Strecke geblieben ist, machen die visuellen Eindrücke mehr als wett. In diesem Sinne halte ich dies für ein hervorragendes Buch für jedes Alter, weil es sich mutig und angreifbar in der kurzen Form eines Bilderbuchs eines komplexen, universellen Themas annimmt.

Der Berg. Rebecca Gugger und Simon Röthlisberger. NordSüd Verlag. 2021. Ab 4 Jahren.

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