Fünf Jahrhunderte. Zwei Geschlechter. Ein Leben.

von | 23.07.2015 | Belletristik, Buchpranger

Mit „Orlando“ ist Virgina Woolfs Klassiker aus dem Jahr 1928 bei Insel als Neuübersetzung im handlichen Taschenbuch-Format erschienen. Dabei erweist sich die Geschichte um den Adligen, der im Laufe seines fast vierhundertjährigen Lebens vom Mann zur Frau wird, als sehr modern. – Von Buchstaplerin Maike

Orlando ist schön. Orlando ist adlig. Und Orlando ist zweifellos ein Mann. Er wächst zur Zeit Elisabeths I. und Shakespeare auf. Doch seine ersten eigenen dichterischen Gehversuche scheitern. Nachdem seine Liebe zu einer russischen Fürstin enttäuscht wird, lebt er in Konstantinopel als Gesandter – und erwacht nach politischen Wirren als Frau. Sie schließt sich Zigeunern an und kehrt bald nach England zurück, wo ihr Geschlechtswandel einen juristischen Skandal verursacht. Doch das hindert Orlando nicht, sich im 18. Jahrhundert mit Schriftstellern zu umgeben, sich im 19. Jahrhundert in einen Mann zu verlieben, ein Kind zur Welt zu bringen und sich ins 20. Jahrhundert einzuleben. Schließlich braucht es fast vierhundert Jahre, viele Epochen und persönliche Wandlungen, bis Orlandos literarisches Werk endlich reif für die Augen anderer ist…

Auch wenn der Untertitel des Romans „Eine Biographie“ lautet, darf man sich nicht davon täuschen lassen. Früh wird deutlich, dass die Gattung nicht allzu ernst genommen wird. Der Biograph ist immer präsent, kommentiert nach Herzenslust und spielt dadurch immer wieder mit den Grenzen von Biographie und fiktionaler Erzählung. Dabei ist das keineswegs trocken, sondern recht scharfsinnig und witzig – von subtil bis Slapstick: „Hier schüttelte sie irritiert den Fuß und zeigte ein, zwei Zoll ihrer Wade. Ein Matrose auf dem Mast, der in diesem Moment zufällig hinuntersah, erschrak so sehr, dass er den Halt verlor und sich nur um Haaresbreite vor dem Sturz retten konnte.“ (S.138). Mal wird sehr detailliert und ausschweifend über Orlandos Umstände reflektiert, mal verfolgt man Orlandos Abenteuer unmittelbar und spannend. Die Ausschweifungen sind gewöhnungsbedürftig, ebenso dass zentrale Momente in Orlandos Leben oft beiläufig abgehandelt werden. Beim Lesen wird jedenfalls höchste Konzentration abverlangt.

„Und in einem Zustand höchster Ungewissheit, ohne zu wissen, ob sie tot oder lebendig war, Mann oder Frau, Herzog oder niemand, fuhr sie mit der Postkutsche zu ihrem Landsitz […].“ (S. 149)

Der Roman hat für mich zwei Stärken: Die spielerische Verhandlung von Geschlecht und die Sprache. Orlandos Wesen bleibt eigentlich immer gleich, doch er_sie reflektiert im Laufe des langen Lebens die unterschiedlichen Epochen, kommentiert spitzzüngig die Gesellschaftsordnung und nicht zuletzt die Rollen, die Frauen und Männer einzunehmen haben. Woolf entblößt durch Orlando als Held_in, wie fluid Geschlechter sein können: Dass Kleidung den Menschen macht, dass man sich selbst aufgrund von Erwartungshaltungen der Gesellschaft in Rollen hineinlebt, und dass Konzepte von Natur grundlegend überdacht werden müssen. Was eignet sich dazu besser als ein einzelnes Leben, das an die Stelle vieler Generationen tritt? Denn so skurril das unbegründet lange Leben und der Geschlechtswandel im Roman ist, so effektiv ist er.

„Natur und Literatur sind offenbar von Natur aus unvereinbar; bringt man sie zusammen, zerreißen sie einander.“ (S.16)

Massiv aufgewertet wird das durch Woolfs ausschweifende Sprache, die sich zum Teil selbst als Parodie entlarvt, und zum Teil sprachlos macht vor Schönheit und Klarheit. Lange Sätze, die atemlos wirken, ironische Bemerkungen und Ausflüge in unterschiedliche literarische Gattungen schmücken und spiegeln den Inhalt. Einen Beitrag liefert die Neuübersetzung ins Deutsche von Melanie Walz, die sehr flüssig und lesbar ist. Frühere Übersetzungen wirken verstaubt und lassen den Text älter und weniger modern erscheinen als er ist.

Der amüsante Roman ist eine literarische Liebeserklärung an Woolfs Freunidn Vita Sackville-West, die Orlando nicht nur ihr Wesen leiht, sondern auch Pate für einige Abbildungen im Buch steht. Doch auch ohne Wissen um die Anspielungen, die Woolf eingebaut hat, ist „Orlando“ ein im mehrfachen Sinne moderner Klassiker, der Leben, Liebe und Literatur vergangener Epochen lebendig macht.

Orlando: Eine Biographie. Virgina Woolf. Übersetzung: Melanie Walz. Insel Taschenbuch. 2015.

 

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