Friedhof der Visionen

von | 11.03.2019 | Buchpranger, Sach- und Fachbücher

Was haben ein Gartenpavillon in Luckenwalde, der Palast auf der Akropolis und eine riesige Kuppel über Manhattan gemeinsam? Sie alle basieren auf herausragenden Ideen und Visionen ihrer Zeit und wurden dennoch nie verwirklicht. Fabelforscher Christian hat sich auf eine architektonische Zeitreise begeben.

Die Gründe dafür, dass die Bauwerke in diesem Buch nie Wirklichkeit wurden, sind vielfältig. Egal ob knappe Kassen, Kriege oder schlicht rückgradlose Politiker, die Angst davor hatten, etwas zu wagen und neue Wege zu gehen – irgendetwas kam immer dazwischen.

Trotz der chronologischen Ordnung lassen die einzelnen Kapitel immer ein Grundthema erkennen, wie die Vision einer idealen Stadt, Lösungsansätze für immer schneller wachsende Städte oder die Suche nach dem Neuen, Modernen. Auffällig ist, dass gerade in der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts der Fokus vieler Idealstädte vor allem auf dem Autoverkehr liegt, dem durch immer höhere Hochhausbauten immer mehr horizontaler Raum zugesprochen wird.

Great Victorian Way & Totaltheater

Besonders beeindruckt haben mich zwei völlig verschiedene Projekte, die nur ganz knapp, aufgrund unglücklicher Umstände, zur Nichtexistenz verdammt wurden. Beim Great Victorian Way, benannt nach der damals über das britische Empire herrschenden Queen Victoria, handelt es sich um einen glasbedachten Boulevard mit Geschäften, breiten Bürgersteigen und einer Fahrbahn für Reiter und Kutschen. Das Besondere sollten die Dimensionen werden. Auf einer Länge von elf Meilen sollte der Boulevard in einem großen Ring um die Londoner Innenstadt die Fernbahnhöfe miteinander verbinden. Um eine Vielzahl von Menschen schnell befördern zu können, war auch der Einsatz einer Art druckluftbetriebenen U-Bahn vorgesehen. Obwohl die Begeisterung für das Projekt groß war, waren es am Ende bürokratische Hürden und Verfahrensfragen, die den Great Victorian Way zu Fall brachten.

Ein weiteres faszinierendes Projekt war das für Berlin geplante Totaltheater von Walter Gropius. Ende der 1920er Jahre entwarf er für den Theaterintendanten und Regisseur Erwin Piscator ein Schauspielhaus mit bis dato undenkbaren Möglichkeiten für die Inszenierung. Ein Großteil des Innenraums, einschließlich der Bühne und eines Teils des Zuschauerraums, sollte drehbar sein. Dadurch wäre es möglich gewesen, die Bühne wie üblich frontal aufzubauen, aber auch, den Zuschauerraum rings um die Bühne anzuordnen und das Publikum stärker in das Geschehen hineinzuziehen. Unglücklicherweise zerstritten sich Gropius und Piscator und somit ist es dem Stolz und dem Ego der beiden zu „verdanken“, dass Berlin und die Welt um ein großartiges Schauspielhaus ärmer sind.

Von außen betrachtet…

Optisch ist das Buch sehr schön gestaltet und es sind zahlreiche Skizzen und Zeichnungen enthalten. Einziger Kritikpunkt sind die doppelseitigen Abbildungen. Hier befindet sich der Buchfalz leider jeweils genau mittig im Bild und verwehrt so oft den Blick auf das Wesentliche; ausfaltbare Bildtafeln wären eine elegantere Lösung gewesen.

Um Philip Wilkinson folgen zu können und Spaß beim Lesen zu haben, ist kein tiefergehendes Fachwissen nötig, allein manche architektonischen Begriffe werden leider nicht erklärt, was aber einem prinzipiellen Verständnis keinen Abbruch tut. Das Buch richtet sich vor allem an Allgemeininteressierte, die auch vor Geschichte und Architektur keinen Halt machen, aber auch Triviasammler und Schlaumeier („Wusstest du übrigens…“) kommen hier voll auf ihre Kosten.

Atlas der nie gebauten Bauwerke. Eine Geschichte großer Visionen. Philip Wilkinson. Aus dem Englischen von Lutz-W. Wolff. dtv. 2018.

 

Bücherstadt Magazin

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