Filmfest Bremen: Literatur, Poesie und Film

von | 24.04.2021 | Filme, Filmtheater

Vom 14. bis 18. April hat das 6. Filmfest Bremen stattgefunden. In diesem Zeitraum konnten über 250 Filme online und zeitlich unabhängig auf filmfestbremen.com angeschaut werden. Dieses Jahr war auch ein Sonderthema darunter: Literatur. Zeichensetzerin Alexa hat für den Bücherstadt Kurier so manchen Kurzfilm angesehen.

36 Kurzfilme aus den Kategorien „Kurz & Gut: Literatur“ (Teil 1-3) und „Kurz & Gut: Poesie“ habe ich geschaut und ich hätte gerne mehr Zeit gehabt, um einerseits noch mehr Filme rezipieren zu können und andererseits die zeitlichen Abstände zwischen den einzelnen Filmen zu vergrößern. Manche Filme hatten es in sich und mussten erst verarbeitet werden – all die vielfältigen Eindrücke, tiefgründigen Themen und unterschiedlichen Kunstmittel. Andere wirkten künstlerisch innovativ, und waren dennoch leichter verdaulich. Es waren viele Filme dabei, die mich in irgendeiner Weise angesprochen und bewegt haben. Sie haben Gedanken angestoßen und mich dazu gebracht, meinen Lebensstil zu überdenken, sie haben mich inspiriert und meinen Horizont erweitert. Einige dieser großartigen Filme möchte ich hier vorstellen.

POESIE

In der Kategorie „Kurz & Gut: Poesie“ werden 15 Filme präsentiert. Weshalb diese ausgerechnet unter dem Label Poesie stehen, wird bei manchen Filmen erst beim näheren Blick ersichtlich. „I Want to Breathe Sweet Air“ ist beispielsweise als dreiteiliges Filmgedicht gestaltet: Es geht um Klimawandel und Umweltzerstörung, umgesetzt in Form von dokumentarischen Filmausschnitten, die als Galerie angeordnet sind und zeitgleich abgespielt werden. Der Film „Born Like a Bullet“ verknüpft Poesie und Tanz und stellt einen Protest von Latinos dar: Sie positionieren sich gegen Diskriminierung und Schikane.

„Sechs Gedecke aufgetischt“ ist ein ruhiger Film. Die Kamera ist fast die ganze Zeit über auf einen Esstisch gerichtet, auf dem benutztes Geschirr zu sehen ist. Während sich der Tisch dreht, hört man Stimmen aus dem Off, nachklingende Gespräche einer bereits beendeten Mahlzeit. Alles „dreht“ sich dabei um einzelne Familienmitglieder, kleine Sticheleien, angedeutete Familiengeschichten und das Essen. Die Gespräche beleben den Film, es entsteht eine gesellige Atmosphäre – das Bild wird durch die eigene Fantasie ergänzt.

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„Deternity“ ist ein Experimentalfilm von nur 2 Minuten Länge und behandelt Friedrich Nietzsches Gedicht „Das trunkene Lied“ auf eine sehr eindrückliche Weise mithilfe von faszinierenden Bildcollagen. Auch der Film „der und die“ hat ein Gedicht als Vorlage: das gleichnamige Liebesgedicht von Ernst Jandl. Die unterschiedlich kombinierten Stilmittel und Filmbilder sind ziemlich schräg, wie auch die Handlung. Es geht um eine Dresdnerin und einen Marsmenschen in einer Liebesszene während einer Montagsdemo.

Ein sehr bemerkenswerter Film ist „Der Engel der Geschichte“, in dem die Vergangenheit und Gegenwart gegenübergestellt werden. Ein Film über (Länder-)Grenzen, Geflüchtete und die Angst davor, dass sich vergangene Ereignisse wiederholen. Als Grundlage für den Film diente ein Gedicht von Walter Benjamin.

Trotz der teils sehr tiefgründigen Themen waren die Filme in dieser Kategorie im Vergleich zu anderen noch ein angenehmer Spaziergang. Jetzt wird es also ernst.

LITERATUR 1

Im ersten Teil der Kategorie „Kurz & Gut: Literatur“ werden Kurzfilme gezeigt, die nicht nur eine ernste und bedrückende Atmosphäre erzeugen, sondern auch zum Teil verstörend sind. Ich beginne mit einem Film, der zur Selbstreflexivität anregt: In „Intrigue & Strikes“ stehen vier Theaterschauspieler:innen im Mittelpunkt, die sich während einer Probe jeweils selbst filmen sollen. Auf diese Weise würden sie zu einem imaginären Publikum sprechen. Ziel ist es, sich auf eine Metaebene zu begeben, um ihre Rolle zu reflektieren, Gefühle zu konstruieren und neue Verhaltensweisen auszuprobieren. Gleichzeitig stehen die Schauspieler:innen unter Konkurrenzdruck, denn am Ende sollen nur zwei von ihnen die Rollen bekommen. Bei dem Stück handelt es sich um Schillers „Kabale und Liebe“, umbenannt in „Kabale und Hiebe“. Bei den sich aufbauenden Konflikten ein sehr treffender Titel. Und in gewisser Weise ist dieser Film auch ein „Seitenhieb“ auf die Selbstdarstellung in den sozialen Netzwerken.

Der Animationsfilm „Fuenf“ beginnt mit dem Kinderreim „Das ist der Daumen“ in einem ziemlich düsteren Setting. Der Reim wird im Flüsterton von einem Kind gesprochen, wodurch eine gruselige Atmosphäre erzeugt wird. Im Laufe der Geschichte wird ein Konflikt aufgebaut: Alles läuft nach einem bestimmen Plan, festen Tagesstrukturen, Regeln – bis zu dem Moment, in dem sich zwei Finger ineinander verlieben. Es ist kein schöner Anblick, wenn sich die Augen an den Fingern gegeneinanderpressen und dieses matschige Geräusch entsteht. Aber das ist noch das geringere Übel: Als die Situation eskaliert, weil die anderen Finger gegen diese Liebe sind, kommt es zu einem Kampf, bei dem ein Messer im Spiel ist …

„Take it and end it“ war der Film, der mich am meisten verstört hat: Ein Metzger muss ein Kalb, das ihm ans Herz gewachsen ist, schlachten. Weil er sich weigert, gerät er mit seinem Chef in einen Konflikt und entschließt sich, fortzugehen. Dass er das Kalb zurücklässt, bleibt für mich unbegreiflich. Warum rettet er es nicht, wenn es für ihn wie ein Kind ist? Der Film beinhaltet Szenen, die zwischen Grausamkeit und Bedrohung schwanken. Dunkelheit und Schatten dienen als filmische Mittel, um Situationen, die sowieso schon beunruhigend sind, noch unerträglicher zu machen. Während des Films war ich erschüttert, hinterher tieftraurig und absolut überzeugt, nie wieder Fleisch essen zu können.

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Hoffnungsvoller kommt der Film „Aussichten“ daher: Erzählt wird von zwei Männern, die sich ein Krankenhauszimmer teilen. Martin liegt am Fenster und erzählt Frank, was er sieht. Franks Laune bessert sich zunehmend. Als Martin stirbt, bekommt Frank den Platz am Fenster und nun ist er derjenige, der dem neuen Zimmernachbarn erzählt, was er sieht. „Aussichten“ ist ein sehr gelungener, berührender Kurzfilm über Hoffnung und Mut. Er bringt nicht nur zum Nachdenken, sondern löst auch ein Gefühlschaos aus: Da ist so viel Zuneigung und Verständnis, so viel Trauer und Freude, so viel, das durch die Kamera und nicht verbal erzählt wird. Dieser Film erinnert mich daran, dass es manchmal gar nicht viel bedarf, um anderen Menschen eine Freude zu machen und sie dadurch in einer schwierigen Lebensphase zu unterstützen.

„Chimera“ hat mich vor allem aufgrund der eindrücklichen Bilder überzeugt: Da sind weite Landschaften, die grenzenlos scheinen und Freiheit suggerieren. Im Kontrast dazu dienen Fenster und Spiegelrahmen als eingrenzende Mittel. Inmitten dieser Eindrücke befindet sich die Hauptfigur, die sich von eingrenzenden Räumen loslöst und durch die Landschaften wandelt, auf der Flucht vor sich selbst.

Besonders faszinierend fand ich den Kurzfilm „The Divine Way“, der auf Dantes Göttlicher Komödie basiert. In diesem Film läuft die Protagonistin ununterbrochen endlose, sich verändernde Treppen hinunter. Je länger sie läuft, desto bedrohlicher wird die Situation. Sie wird immer schneller, die Treppen beginnen sich zu drehen, die Farben verändern sich … Die Aufnahmen zeigen die unterschiedlichsten Treppen an mehr als fünfzig Orten. Gedreht wurde der Film in Deutschland und nun frage ich mich: Wo genau befinden sich diese großartigen Treppen?

LITERATUR 2

Der zweite Teil der Kategorie „Kurz & Gut: Literatur“ präsentiert Filme mit viel Potenzial, aber nicht alle konnten mich begeistern. Die Dokumentation „Das ist komisch“ über Franz Kafka, seinen nicht befolgten letzten Willen, man möge seine Werke allesamt vernichten, und alles, was heute von und über ihn existiert, ist zwar sehr interessant, reicht aber bei Weitem nicht an andere Kunstfilme heran. In diesem zweiten Teil möchte ich deshalb nur zwei Filme hervorheben.

„Hyperuranios. The Hypermarket of Ideas“ ist ein schräger und irgendwie auch witziger Kurzfilm: Ein bewaffneter Dieb möchte einen Verkäufer im Einzelhandel ausrauben, aber dieser lässt sich nicht so leicht unterkriegen. Der Verkäufer schlägt mit Platons Logik zurück, indem er mit dem Dieb eine Diskussion beginnt – bis der Dieb am Ende nicht mehr weiter weiß. Verunsichert darüber, ob er selbst überhaupt existiert, verlässt er den Laden wieder, ohne Schaden angerichtet zu haben.

„Alle meine Geschichten sind wahr. Einige davon sind passiert, andere nicht, aber alle meine Geschichten sind wahr“, meint der Journalist Demetrius im Kurzfilm „Demetrius“. Nach einem Skandal erklärt er sich bereit, seiner Kollegin ein Interview zu geben. Das Gespräch wird zunehmend angespannter, es geht um Wahrheit, Kunst, Lügen und journalistische Verantwortung. Ein Film, der thematisch wie filmisch sehr spannend umgesetzt wurde.

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LITERATUR 3

Teil drei der „Kurz & Gut: Literatur“-Kategorie lässt sich sehr einfach zusammenfassen: In drei der vier Filme müssen die Protagonist:innen den Tod ihrer Mutter verarbeiten. Das geschieht auf sehr unterschiedliche Weise unter verschiedenen Bedingungen. Besonders eindrücklich fand ich die Umsetzung im Film „Lake of Happiness“, in dem die 9-jährige Jasja versucht, den Tod der Mutter zu verkraften. Im Alltag „funktioniert“ sie einfach: Sie kümmert sich um das jüngere Geschwisterkind, macht den Haushalt, ist selbständig wie eine Erwachsene. Dennoch beschließt ihr Vater, sie ins Waisenhaus zu bringen. Das ist eine nicht nachvollziehbare Handlung. Erst später erahnt man die Hintergründe: Der Vater möchte wieder heiraten. Jasjas Geschichte ist traurig und still: Die Szenen sind ruhig; es scheint, als sei die Zeit stehen geblieben. Und es wird kaum gesprochen. Jasja und ihr Vater sprechen nicht miteinander – da sind so viel unterdrückte Trauer und nicht ausgesprochene Worte, dass es beim Zuschauen beinahe unerträglich wird. Der Film bleibt im Gedächtnis.

Zum Abschluss stelle ich noch einen Film vor, in dem es um einen Schriftsteller geht: „Untitled“. Jules‘ erster Roman soll bald erscheinen, aber der Titel passt noch nicht. Also beschließt er, den Autor in Lissabon aufzusuchen, der die besten Titel erfindet und damit großen Erfolg hat. Dieser lässt sich tatsächlich dazu überreden, Jules zu helfen, stellt aber eine Bedingung: Jules soll einen Liebesbrief verfassen, den der Titelschreiber seiner Angebeteten überreichen kann. Diesen Deal nimmt Jules an, doch es kommt alles anders. „Untitled“ ist ein interessanter Film, der einmal mehr vor Augen führt, wie der Buchmarkt funktioniert (oder auch: nicht funktioniert), kein anstrengender Film und auch keiner, der mich länger beschäftigen wird, aber ein guter Film, der einen leichten Abschluss bildet.

Ich hätte gerne noch viel mehr Filme geschaut und es frustriert mich in gewisser Weise, dass diese Filme nicht dauerhaft zugänglich sind. Es sollte ein „Netflix für Kunstfilme“ geben, die ich mir immer mal wieder anschauen kann. Filme, die inspirieren, tiefgründig sind, mich und die Welt bewegen – und vielleicht auch tatsächlich ein Stück weit verändern. Ich freue mich schon auf das nächste Filmfest Bremen.

[tds_note]Für alle, die nicht bis zum nächsten Jahr warten wollen, gibt es an dieser Stelle eine Empfehlung: Vom 3. bis 9. Mai findet das 25. Internationale Bremer Symposium zum Thema „Kopf/Kino: Psychische Erkrankung und Film“ statt. Vorträge und Diskussionen werden via Zoom stattfinden und die Filme können online geschaut werden. Weitere Infos gibt es hier: https://www.city46.de/bremer-filmsymposium[/tds_note]

  • I Want to Breathe Sweet Air. Regie: Pamela Falkenberg, Jack Cochran. Skript: Lucy English. USA. 2020.
  • Born Like a Bullet. Regie: Jimmy Fernandez. Co-Director: Christian Gonzalez S. Chile. 2020.
  • Sechs Gedecke aufgetischt. Regie/Skript: Fabio Thieme. Cast: Marina Anna Steiner, Alexander Abramyan, Judith Mundinger, Finn Micheles, Rasmus Schmidt, Felicitas Schreier. Deutschland. 2018.
  • Deternity. Regie/Skript: Regie Mersolis Schöne, Evi Jägle. Cast: James Delaney. Übersetzung: Rebecca Griffin, Joel Szonn. Stimme: James Delaney. Österreich. 2018.
  • der und die. Regie/Skript: Peter Böving. Cast: Manfred Lehmann (Speaker), Anna Mateur. Deutschland. 2019.
  • Der Engel der Geschichte. Regie: Eric Esser. Skript: Eric Esser, Evelyn Rack. Deutschland. 2019.
  • Intrigue & Strikes. Regie/Skript: Martin Oliveros Heinze, Eneko Sanz Guinea. Cast: Kira Zurhausen, Robin Hoffmann, Henry Jiménez, Aline Adam, Carsten Wilhelm. Deutschland. 2020.
  • Fuenf. Regie/Skript: Peter Kaboth. Animation: Peter Kaboth, Albert Radl. Musik: Ludwig Goetz, Karsten Scheunemann. Sound: Alexander Weuffen. Deutschland. 2019.
  • Take it and end it. Regie/Skript: Kirineos Papadimatos. Cast: Vasilis Bisbikis, Kostas Xikominos, George Stavrianos, Phaedra Soutoy, Stelios Dimopoulos, Ilias Kounelas, Vasilis Oikonomou, Konstantinos Loukas. Griechenland. 2020.
  • Aussichten: Regie/Skript: Lucas Lemnitzer. Cast: Christian Buse, Arnd Schimkat, Vanessa Eckart, Josef Pfitzer. Deutschland. 2019.
  • Chimera. Regie/Skript: Melina Loukanidou. Cast: Natasha Rumyantseva, Dimitris Kapetanios. Griechenland. 2019.
  • The Divine Way. Regie/Skript/Cast: Ilaria Di Carlo. Deutschland. 2018.
  • Das ist komisch. Regie/Skript: Louis St-Pierre. Kanada. 2019.
  • Hyperuranios. The Hypermarket of Ideas. Regie/Skript: Pietro Traversa. Cast: Antonio Bannò, Vito Ubaldini. Italien. 2019.
  • Demetrius. Regie/Skript: Fabio Thieme. Cast: Christoph Gawenda, Jana Antonissen, Milton Welsh. Deutschland. 2019.
  • Lake of Happiness. Regie/Skript: Aliaksei Paluyan. Cast: Anastasiya Plyats. Deutschland. 2019.
  • Untitled. Regie/Skript: Clément De Dadelsen. Cast: Arthur Provost, Bérénice Coudy, Christian De Dadelsen, Joffrey Monteiro-Noël, Benoît Chauvin. Frankreich. 2019.

Bilder: eigene Screenshots

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