Es rappelt im Karton

von | 29.06.2015 | Buchpranger

Am 26. Juni haben sich Bücherstädterinnen Sinja und Maike die Lesung „MiniLit 1-3: Texte aus der jungen Bremer Schreibszene“ des Bremer Literaturkontors angehört. Vorgestellt wurden sechs Kurzgeschichten, die von der Enge kleinbürgerlicher Häuser in die weite Welt und von ersten romantischen Erfahrungen in die Fänge der Lohnarbeit erzählen.

Kühle Luft weht von draußen in die Bremer Bar „Karton“, es riecht nach Sommer und Weser. Vor der kleinen Bühne sind gemütliche, bunt gemischte Sofas und Sessel aufgestellt. Vorfreudig wird in den 3 Heften der MiniLit-Reihe geblättert, in denen die Texte des Abends veröffentlicht sind: so groß wie ein CD-Booklet, Literatur für die Hosentasche.

Moderiert von Jens Laloire, beginnt die Lesung mit den kraftvollen Klängen einer Gitarre und kunstvoll geschmirgelten Texten. Die zweiköpfige Bremer Band Zebra gliedert die Lesung und sorgt mit den Songs für Auflockerung und Atempausen.
Endlich ist die Bühne für die Autorinnen und Autoren freigegeben: Als erste Stimme des Abends liest Laura E. Beck ihren Text „Hörweiten“, in dem sie über das Loslassen sinniert. Mit ruhiger Stimme erzählt sie von einem alternden Vater, in dessen Haus die Zeit eingekehrt ist, und damit Veränderungen und Nostalgie.
Ihr schließt sich Laura Müller-Hennig an, die in „Kolja“ den fast vergessenen Spuren einer flüchtigen Bekanntschaft nachgeht. „Vielleicht existiert der Umschlag ja gar nicht“, fesselt die Autorin das Publikum, „vielleicht ist die Schublade leer, wenn sie sie aufzieht, eine Phantasie an einem Sonntagabend.“ Aber der Umschlag ist da, und darin eine geheimnisvolle Audiokassette. Von Kolja, den Nana vor Jahren nur zweimal getroffen hat. Erinnerungen werden aufgewirbelt, und der Drang, Koljas Nachricht zu hören…
Als dritte Autorin liest Corinna Gerhards ihren Text „Mara fährt“, mit dem sie 2011 das Bremer Autorenstipendium gewonnen hat. Mit Stimme und Mimik und mit Händen und Füßen erweckt sie Maras Reise zum Leben, die nach Rumänien und in die endlose Welt führt. Dabei changiert der Text zwischen humorvoller Sprachverwirrung und lyrischen Beschreibungen. „Ich habe meine Zeit verloren“, beginnt die Kurzgeschichte. Und nicht nur die: Während die Welt in Schnappschüssen durch fremde Autofenster vorbeizieht, verliert Mara auch ihre Sprache in der Gegenwart Männer, die sie per Anhalter mitnehmen. Sie braucht sie nicht.

Nach einer Pause und einem weiteren Musikblock von Zebra bleibt der Sänger der Band, Colin Böttger, gleich auf der Bühne. Lächelnd weist er auf einen leeren Sessel im Publikum, der vor der Pause noch besetzt war. „Meinem Sohn habe ich gesagt, der Text ist ab Achtzehn“, sagt er. Aber eigentlich, meint Böttger, war das nur ein Vorwand. Denn sein Text „Nicht weiter wild“ ist sehr persönlich. Aus der Sicht eines Vaters, der das Umgangsrecht für den Sohn verloren hat, und ihm nun still Wünsche für die Zukunft mitgibt.
Philipp Böhm nimmt nach ihm Platz auf der Bühne. „Dieser Text ist ein bisschen traurig“, kündigt er „Staub“ an: „Es geht um Lohnarbeit.“ Rhythmisch und treibend trägt er die Kurzgeschichte vor, in der es um den Alltag in einer Fabrik geht, in der niemand bleiben will, und in der niemand weiß, was eigentlich hergestellt wird. Abgestumpft, grau, ohne Zukunft: die Fabrik scheint ein Ort zu sein, der aus der Zeit gefallen ist.
Als letzter Autor des Abends liest Benjamin Tietjen, der genau wie Böhm im letzten Jahr das Bremer Autorenstipendium gewonnen hat. „An einem Sonntag“ heißt der Text, und handelt von den Verwirrungen der Teenagerzeit. Alkohol, Zigaretten, das erste Mal, die Annäherungsversuche der Cousine, Raumschiff Enterprise im Fernsehen. Während es inhaltlich in eine klischeehafte kleinbürgerliche Welt abrutscht, erweckt Tietjen die Figuren mit seiner Stimme zum Leben.

Der Abend endet mit Musik von Zebra, die hier und dort von der großen Literatur Titel und Texte entlehnen. Mit einem Schmunzeln lassen sie uns zurück, als sie Nietzsches Gedicht „Abschied“ mit Nirvana-artigen Klängen vertonen. Ihr Fazit: Nietzsche wäre heute wohl ein Fan von „Game of Thrones“ gewesen. Das Format der Literatur mag vielleicht mini gewesen sein, aber die Autorinnen und Autoren des Bremer Literaturkontors wissen, wie man die Texte groß in Szene setzt.

Text: Maike
Fotos: Sinja

Bücherstadt Magazin

Bücherstadt Magazin

Das Bücherstadt Magazin wird herausgegeben vom gemeinnützigen Verein Bücherstadt. Unter dem Motto "Literatur für alle!" setzt sich die Redaktion mit der Vielfalt der Literatur im Sinne des erweiterten Literaturbegriffs in verschiedenen medialen Aufbereitungen auseinander.

0 Kommentare

Einen Kommentar abschicken

Deine E-Mail-Adresse wird nicht veröffentlicht. Erforderliche Felder sind mit * markiert

Wir sind umgezogen!

Wir sind kürzlich umgezogen und müssen noch einige Kisten auspacken. Noch steht nicht alles an der richtigen Stelle. Solltet ihr etwas vermissen oder Fehler entdecken, freuen wir uns über eine Nachricht an mail@buecherstadtmagazin.de – vielen Dank!

Newsletter

Erhaltet einmal im Monat News aus Bücherstadt. Mehr Informationen zum Newsletter gibt es hier.

DSGVO Cookie Consent mit Real Cookie Banner