Eine Serpentinenfahrt ohne Ausstieg

von | 19.08.2020 | Belletristik, Buchpranger

In den sozialen Medien wurde es teilweise bereits als „bestes Buch des Jahres“ betitelt: Olivia Wenzels „1000 Serpentinen Angst“. Bücherstädterin Zarah hat sich auf eine kurvenreiche Fahrt durch das Debüt begeben und ist durchgeschüttelt und aufgelöst zurückgeblieben. Ein großartiges Debüt über Rassismus, Lebenskonzepte, Gegenwart und Erinnerungen.

„Roman“ steht auf dem bunten Schutzumschlag von Olivia Wenzels Debüt „1000 Serpentinen Angst“, aber wer dieses knallgelbe Buch mit den schwarz-pinken Kreisen öffnet und eine klassische Erzählweise, einen klassischen Handlungsaufbau erwartet, hat sich getäuscht. Schon der erste Satz liefert einen katapultartigen Einstieg in die Gedanken- und Gefühlswelt der Protagonistin: „Mein Herz ist ein Automat aus Blech.“

Immer wieder taucht im Laufe der Seiten dieses Bild auf, die Erzählerin verkriecht sich in dem Automaten, er wird zum Sinnbild ihres Verhältnisses zur Welt, ihrer Betrachtung der Welt und vor allem ihrer Schuldgefühle: Während sie vor einem solchen Snackautomaten am Bahnhof stand, warf sich ihr Zwillingsbruder vor einen einfahrenden Zug.

Der Roman ist eine Autofiktion, also geprägt von gleichzeitig autobiografischen und fiktionalen Elementen: Die Rahmenpunkte sind von Wenzels eigenem Leben geprägt, die Protagonistin ähnelt ihr in Denken und Handeln nicht immer, Vieles wurde hinzugefügt. Und dennoch ist er nicht nur ein Text über dieses Trauma. Es sind vielmehr lauter Momentaufnahmen aus dem Leben einer Schwarzen Frau in Deutschland und während ihrer Reisen nach New York und Vietnam, es ist ein Sich-Vorantasten zurück in die eigene Jugend und Kindheit.

Wie nicht enden wollende Serpentinen liest sich das, wie eine Autofahrt, die keinen Halt einlegt und Übelkeit verursacht, weil hinter jeder Kurve dann doch nur eine neue Kurve lauert, eine neue Erfahrung, ein neuer Erinnerungsfetzen. Zusammen fügen sie sich zu einem Gesamtbild der Angst, die die namenlose Protagonistin seit ihrem Aufwachsen begleitet: Angst vor rassistischen Übergriffen, Angst davor, nicht dazuzugehören, Angst davor, zu sehr aufzufallen, Angst vor der politischen Entwicklung.

Zweifeln in Dialogform

Immer wieder sind es die einzelnen Momente, die so viel ausmachen. Ein fröhlicher Radausflug mit Zeltübernachtung am See wird zur existenziellen Bedrohung, als Skinheads auftauchen, ein Mann beschimpft die Protagonistin als Kind mit schlimmsten Worten.

Ein Großteil des Buches ist in Dialogform geschrieben, der Roman wird von solchen Dialogen eingerahmt, mit Erinnerungen und Momentaufnahmen dazwischen. Das beginnt beispielsweise mit einer Frage, die immer wieder auftaucht: „WO BIST DU JETZT? – Ich befinde mich in Durham, North Carolina, dem zweitnördlichsten der US-amerikanischen Südstaaten.“

Mal erscheint das wie eine Auseinandersetzung der Protagonistin mit sich selbst, mal wie ein Kreuzverhör, mal wie ein Zwiegespräch, mal hält es das Lesepublikum dazu an, den Text selbst kritisch zu hinterfragen, als Fragment zu sehen, vor allem bei Fragen wie: „WAS UNTERSCHLAGE ICH JETZT?“ Immer wieder wird nicht nur das Erzählte, sondern werden auch die eigenen Privilegien hinterfragt.

Familie, Freundschaft, Lebenskonzepte

Mitten im Roman offenbart sich bei der Erzählstimme eine Angststörung, die sie dazu zwingt, innezuhalten, nachzudenken. Immer mehr Erinnerungen drängen sich in den Vordergrund. Das Verhältnis zur Mutter – während ihres Aufwachsens junge Punkerin, die ohne nennbaren Grund von der Stasi verhaftet wurde – ist schwierig, das zum Vater, der kurz nach der Geburt der Zwillinge zurück nach Angola ging, kaum vorhanden.

Selbst die Großmutter, in der DDR-Zeit treue SED-Anhängerin und eine der wichtigsten Bezugspersonen der Erzählerin, ist tief gefangen in einem System, das rassistisch geprägt ist: „Als wir Kinder waren, nannte uns Oma Rita gern liebevoll ihre Schokokrümel. Auch heute sagt sie das noch manchmal. Ich habe schon öfter versucht, ihr zu verdeutlichen, dass der Vergleich meiner Haut mit Schokolade neben ihrer Zuneigung vor allem zeigt, dass sie ihre eigene Hautfarbe als Selbstverständlichkeit sieht, von der meine Haut abweicht. Ansonsten müsste sie sie nicht immer wieder benennen, ansonsten hätte sie auch auf die Idee kommen können, meinen Opa zu Lebzeiten mit mein süßes Raffaellobällchen oder ihre eigenen Töchter mit meine lieben hartgekochten, ordentlich geschälten Eier anzusprechen.“

Es geht aber nicht nur um Familie in Wenzels Roman, sondern auch um freundschaftliche Beziehungen, die Frage nach Beziehungskonzepten und Queerness als Schwarze Frau.

Die Orte wechseln, die Zeiten wechseln, die Themen wechseln. Das könnte problematisch sein, aber es geht wunderbar auf. In dieser ständigen Fluidität liegt ein Sog, der das Buch so schnell nicht aus der Hand legen lässt, eine Serpentinenfahrt, bei der Aussteigen keine Option ist. Es bietet Einblick in ein Leben, in die Frage nach Herkunft, in Ängste, Wünsche, Politik und vor allem hilft es bei einer unfassbar wichtigen Aufgabe: die eigenen Privilegien zu erkennen und zu hinterfragen.

1000 Serpentinen Angst. Olivia Wenzel. S. Fischer. 2020.

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