Eine Ode an das Leben

von | 05.08.2021 | Buchpranger, Sach- und Fachbücher

„Über das Leben, das Sterben und den Tod – und was ein Hamster damit zu tun hat“ lautet der Untertitel des zweiten Buchs der Autorin Jasmin Schreiber. „Abschied von Hermine“ ist ein Sachbuch, und zwar ein ganz besonderes. – Von Satzhüterin Pia

Ein Buch über das Sterben und den Tod als eine „Ode an das Leben“ zu bezeichnen, mag erst einmal merkwürdig anmuten. Bei diesem ungewöhnlichen Sachbuch passt es aber wie die sprichwörtliche Faust aufs Auge: Jasmin Schreiber schlägt einen beeindruckenden Bogen vom Beginn eines Lebens über den Alterungsprozess, die Unsterblichkeit und das Sterben bis hin zum Tod und greift zum Schluss sogar noch das Thema Trauer mit auf. Damit schrieb sie ein ausgesprochen lesenswertes (Sach-)Buch.

Zwerghamster Hermine

Den roten Faden durch diese Vielfalt an schweren Themen bildet Hermine, Schreibers verstorbener Zwerghamster. Die Biologin und Autorin schafft damit einen emotionalen Zugang zu den Themen: von der Entstehung eines Lebens über das Sterben bis zum Verwesungsprozess sowie ihrer eigenen Trauer um die kleine Hamsterdame. Verwesungsprozess? Ja, auch hiervor wird nicht Halt gemacht und das funktioniert wirklich gut, dank der einfühlsamen, aber lockeren Art des Schreibens, des geduldigen Erklärens und des mitreißenden An-die-Hand-Nehmens. Besonders beim Erklären von komplizierten oder – die Autorin verzeihe mir dies – „drögeren“ Vorgängen, wie wir sie vielleicht noch aus dem Biologie-Unterricht kennen (zum Beispiel dem Aufbau einer Zelle) ist Hermine hilfreich: Jasmin Schreiber zeichnete und skizzierte die kleinen Bildchen höchstselbst. Die schlichten Zeichnungen helfen uns Leserinnen und Lesern beim Verstehen, lockern auf und sind nicht selten mehr als niedlich und humorvoll gestaltet.

Mit Humor und Respekt

Überhaupt findet sich mehr Humor in diesem Buch über das Sterben und den Tod, als man anfangs annehmen dürfte (außer man kennt bereits Schreibers Debüt „Marianengraben“, dann wundert man sich eventuell etwas weniger). Der flüssige, anschauliche, lockere und eben auch humorvolle Text liest sich ausgesprochen gut. Die Autorin schafft es mit einer beeindruckenden Leichtigkeit, die so sperrigen und emotionsbehafteten Themen zugänglich zu machen und Leserinnen und Lesern am Ende sogar noch ein gutes und hoffnungsfrohes Gefühl mit auf den Weg zu geben. Denn letztendlich hängt alles zusammen: der Tod des Einen bedingt das Leben des Anderen.

Bei all den kleineren Späßchen bleibt der Respekt vor dem Leben, dem Sterben und dem Tod jedoch nie auf der Strecke. Eine Gratwanderung, die hier mit Bravour gemeistert wurde. Und das, wobei es manchmal schon fast albern wird. „Dabei geht es um Prozesse, die wir auch durchlaufen würden, wenn wir für immer kerngesund wären – also Falten, Haarausfall, die plötzliche Fixierung auf das Einhalten mittäglicher Ruhezeiten in der Nachbarschaft, so was eben“, scherzt Schreiber beim Thema Altern auf Seite 50 zum Beispiel.

Ganz viel Liebe für die Biologie

… und das bedeutet vornehmlich eine Menge Liebe für besondere Tiere. Schmeißfliegen, Quallen oder Nacktmulle: Als passionierte Biologin zeigt die Autorin, dass diese und noch viele mehr der vermeintlich gruseligen oder ekelerregenden Tierchen im Grunde Superheldinnen und -helden sind. Und ich will vielleicht nicht so weit gehen, als würde ich Schmeißfliegen, Stechmücken oder Wespen plötzlich lieben, aber dennoch habe ich wohl einen neuen Zugang zu allen Lebewesen dieser Welt gefunden. Und das liegt allein an Schreibers Art mir zu übermitteln, wie sehr jedes dieser Tierchen seinen Anteil am funktionierenden Kreislauf des Lebens hat. Schreibers Liebe zu allen Tieren ist irgendwie herzerwärmend. Ein klitzekleiner Auszug:

„Ich hoffe übrigens, dass Sie Wespen nicht als Feinde ansehen. Ein Nest Wespen kann pro Jahr ungefähr sieben bis zehn Kilogramm Stechmücken jagen, ich denke, das kommt Ihnen entgegen (Stechmücken sind übrigens auch meine Freund:innen, es tut mir leid).“ (S. 199)

„Ich erzähle jetzt ein wenig von Nacktmullen, denn die meisten Leute wissen nur, dass sie seltsam aussehen und viel aushalten, aber nicht, wie die eigentlich so leben – und das finde ich genauso interessant wie die genetischen Aspekte, auf die ich später zu sprechen komme.“ (S. 85)

„Schwämme sind spannende Tiere […]“ (S. 99)

Die Biologin setzt sich mit der Natur ebenso respektvoll auseinander wie mit anderen Themen. Zum Beispiel beim Thema Glaube (ja, ich bin selbst auch immer noch überrascht, wie viele Aspekte Schreiber aufgegriffen hat). Der Glaube sowie Religionen finden sich besonders im Kapitel über Trauer und Bestattungen wieder. Schreiber ist selbst Atheistin und erklärt dennoch einfühlsam und respektvoll, wie Menschen in unterschiedlichen Religionen (auch im Laufe der Zeit) die Toten begraben haben, erklärt Rituale und Bräuche unterschiedlicher Glaubensrichtungen und kommt immer auch auf Auswirkungen für die Natur zu sprechen.

Ein Quell der Inspiration

An der einen oder anderen Stelle inspiriert Jasmin Schreiber mit unterschiedlichen Denkanstößen zu mehr Achtsamkeit und Mitgefühl. Sei es beim absolut verwirrenden Hormoncocktail, den Jugendliche während der Pubertät durchleben müssen, oder auch (und besonders) beim Umgang mit der Natur.

„Vielleicht inspiriert Sie ja dieses Buch dazu, tote Nacktschnecken und Ähnliches in ihrem Garten nicht wegzuwerfen, sondern unter eine Hecke zu legen. Einfach als Nachbarschaftshilfe für all die Tiere, die unser Ökosystem zu dem machen, was es ist. Und damit natürlich auch unsere Lebensgrundlage erhalten – und das, obwohl wir sie so oft so nachlässig behandeln.“ (S. 197)

Der letzte Nebensatz dieses Zitats zeigt es bereits: Die Autorin thematisiert die Umwelt mehr als einmal im Hinblick auf die Krisen. Dabei wird nicht direkt dogmatisch erzählt, aber dennoch zeigt Jasmin Schreiber an verschiedenen Stellen, wie auch an kleinen Ecken anders gehandelt werden müsste, um den Tieren ein besseres Leben ermöglichen zu können.

Andere Themen, die ich als Leserin nicht direkt erwartet habe, und die teilweise auch nur in Fußnoten oder kleinen Nebenanekdoten oder kurzen Exkursen aufgegriffen werden, sind zum Beispiel: Geschlechter(identität) und die Rolle der Frau in einer patriarchalen Gesellschaft sowie ihre Rolle an verschiedenen Stellen historisch gesehen. Tatsächlich hat es mich auch überrascht, dass über Bestattungsriten gesprochen wird. Jetzt, da ich das Buch gelesen habe, bin ich hingegen fasziniert, wie facettenreich die Themenvielfalt rund um das Leben, das Sterben und den Tod geschildert und wie stimmig alles immer wieder zusammengeführt wird. Und das auf weniger als 300 Seiten.

„Machen Sie was draus.“ (S. 266)

In meiner Vorstellung dürfte ein Sachbuch per se erst einmal eines nicht sein: gut lesbar. Dieses Buch belehrte mich eines Besseren, und so flog ich durch die Seiten, die (eben doch sachbuchtypisch) mit vielen, vielen Informationen aufwarten, und schließlich in einem ordentlichen Literaturverzeichnis ihr Ende finden. Ich verzeihe es der Autorin dabei sogar, dass sie uns Leserinnen und Leser konsequent siezt (ich bin eindeutig mehr für das Du, wie wir es zum Beispiel von einem gewissen schwedischen Möbelriesen kennen).

Jasmin Schreiber leistet mit diesem Buch auf mehr als einer Ebene Bildungsarbeit. Einerseits weiß ich nun sehr viel mehr über viele ungewöhnliche Tiere, über Alterungsprozesse, ja sogar religiöse Bestattungsriten im Laufe der Zeit – vor allem aber habe ich viel über das Leben gelernt. Wir haben nur dieses eine Leben und um dem Rat Schreibers zu folgen: „Machen Sie was draus.“

Und damit möchte ich euch „Abschied von Hermine“ wärmstens ans Herz legen.

P.S.: Übrigens auch, wenn ihr zu der Fraktion „Gendern stört den Lesefluss“ gehört. Jasmin Schreiber nutzt den Doppelpunkt und ja, richtig: es stört den Lesefluss keinesfalls.

Abschied von Hermine. Jasmin Schreiber. Goldmann. 2021.

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Pia Zarsteck

Pia Zarsteck

Pias Liebe zur Literatur hat sie vor Jahren an die Uni Bremen geführt, wo sie bis zum Masterabschluss Germanistik studierte. Heute ist sie Vorsitzende im Bücherstadt e.V., Mama einer Vierjährigen und beruflich ganz woanders unterwegs - aber immer noch vernarrt in Bücher und Spiele. Ein Leben ohne die Bücherstadt kann sie sich nicht vorstellen.

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