Ein Zopf mit langem Bart

von | 12.09.2018 | Belletristik, Buchpranger

Drei Frauen – in Indien, Kanada und Italien – sind durch die Haare miteinander verbunden. In Laetitia Colombanis „Der Zopf“ verweben sich die Schicksale wie Haarsträhnen. Worteweberin Annika kann nicht wirklich verstehen, warum dieser Roman die Bestsellerlisten stürmt.

Smita lebt als Dalit, als Unberührbare, in Uttar Pradesh, Indien. Ihre Aufgabe ist es, die Fäkalien der reicheren, reineren Menschen zu entfernen. Diese Arbeit möchte sie ihrer kleinen Tochter Lalita ersparen, hat deswegen sogar einen Platz in der Schule für sie ergattert. Doch auch hier bleiben die Kastengrenzen bestehen. Lalita wird unwürdig behandelt und so bleibt Smita und Lalita nur die Flucht in ein neues Leben. Eine Flucht, die sie indirekt in Verbindung mit Giulia setzt.

Giulias Familie leitet seit Generationen einen Betrieb, in den Haare sizilianischer Frauen zu Perücken verwebt werden. Als ihr Vater nach einem Unfall im Koma liegt, begegnet ihr nicht nur die große Liebe in Gestalt eines sinnlichen Inders, sie stellt auch fest, dass das Unternehmen dringend gerettet werden muss und sucht nach einer Lösung.

Die dritte Frau im Bunde ist Sarah, erfolgreiche kanadische Anwältin, geschieden, Mutter von drei Kindern, für die sie kaum Zeit hat. Als bei ihr Brustkrebs diagnostiziert wird, fällt ihre Karriere langsam in sich zusammen.

Im Rahmen des Erwartbaren

Die drei Geschichten wechseln sich kapitelweise ab und weben so nach und nach ein Gesamtbild. Das ist nicht revolutionär, sorgt aber doch für etwas Abwechslung im Vergleich zu vielen einfacher konstruierten Romanen.

Die sprachlichen Bilder und festen Wendungen, die sich in „Der Zopf“ häufen, haben – um beim Thema Haare zu bleiben – meistens einen langen Bart und kommen nicht über die Grenzen des Erwartbaren hinaus; da wird im Boden versunken, Pläne werden begraben und für tot erklärt, Schicksale verknüpft, Mauern errichtet. Natürlich führt das dazu, dass sich der Roman leicht und gut lesen lässt, vielleicht auch ein Grund für den großen Erfolg, den „Der Zopf“ sowohl in Frankreich als auch in Deutschland verzeichnen konnte.

Ein weiterer Grund dürfte die momentane Beliebtheit des Themas „starke Frauen“ sein, das ja spätestens durch „Good night stories for rebel girls“ in aller Munde ist und dem sich „Der Zopf“ schon mit der Überschrift des Klappentextes verschreibt: „Drei Frauen, drei Leben, drei Kontinente – dieselbe Sehnsucht nach Freiheit“ heißt es nämlich da. Starke Frauen in der Literatur, das ist ja erstmal eine gute Idee.

Friede, Freude, Eierkuchen

Ebenso erwartbar wie die Sprache gestaltet sich allerdings tatsächlich der Fortgang der Geschichte, denn alle Widerstände, die sich den drei Protagonistinnen in den Weg stellen, lassen sich recht schnell, wenn auch nicht immer bequem, überwinden. So kann der Roman mit einem einzigen großen Happy End schließen, in dem sich alle drei Frauen durch das Universum miteinander verbunden fühlen und voller Hoffnung in die Zukunft blicken, die sicherlich trotz einer Chemotherapie und trotz aller Widrigkeiten des Lebens in den Slums von Chennai ganz rosig werden wird. Und natürlich ist die Karrierefrau Sarah am Ende ihrer Geschichte bekehrt und wird sich von nun an viel mehr Zeit für ihre Familie nehmen.

Hoffnung schön und gut, aber läuft das nicht alles etwas zu glatt? „Der Zopf“ befriedigt das Bedürfnis nach dem Ende aller Probleme, nach Friede, Freude, Eierkuchen, gaukelt seinen Leserinnen und Lesern vor, dass alles gut werden wird – egal, ob man nun Brustkrebs hat oder als Unberührbare in Indien lebt. In einer solch rosigen Welt scheint es dann auch nicht besonders schwierig, eine starke Frau zu sein.

Lebenswelten

Sicherlich kann man dem Roman zugutehalten, dass ja immerhin mit Smita eine Figur eingeführt wird, die anders ist als die Frauen, die man aus der sonstigen Unterhaltungsliteratur der Gegenwart kennt. Die Leserinnen und Leser können in ihrer Geschichte etwas über die Lebensrealität in Indien erfahren, das sie wahrscheinlich noch nicht wussten – und das sogar, ohne dass die Lektüre ein schlechtes Gefühl hinterlässt. Bleibt nur die Frage, ob so ein süßer Nachgeschmack immer wünschenswert ist.

Im Gegensatz zu Smitas zumindest für mich glaubhafte Lebensumstände in Indien hat mich der Alltag von Giulia in Italien ernsthaft verwirrt. Ihr Sizilien der Gegenwart ist nämlich eines, das von kirchlichen Zwängen und gesellschaftlichen Vorurteilen dominiert wird (beides sicherlich möglich), in dem man noch Briefe schreibt und nachts mit Steinchen an Fenster wirft, aber keine Telefonnummern austauscht, in dem man sich in Grotten liebt und sich über den Ehemann definiert. Das alles erinnert an das Deutschland der 50er und 60er Jahre – ob es in Italien heute noch so aussieht, möchte ich doch zumindest bezweifeln. Falls ja, ist es in einer so strukturierten Gesellschaft natürlich schwieriger, sich als selbstbewusste Frau durchzuschlagen – falls nicht, spielt es zumindest der märchenhaft-rosigen Idee in die Hände, der „Der Zopf“ zugrunde liegt.

Der Zopf. Laetitia Colombani. Aus dem Französischen von Claudia Marquardt. S. Fischer. 2018.

 

Bücherstadt Magazin

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