Ein Wiener Spuk-Spaziergang (Teil 2)

von | 28.10.2019 | #Todesstadt, Round the World, Specials, Stadtgespräch

Manchmal, wenn Wortklauberin Erika und Stadtbesucherin Annu, die von Beruf Fremdenführerin ist, durch den Wiener Ersten Bezirk spazieren, laufen ihnen die absurdesten Gestalten über den Weg. Folgt ihnen für einen Spuk-Spaziergang mit literarischen Andeutungen durch das Wiener Stadtzentrum.

Über den Graben

Zurück über den Heldenplatz und über den Michaelerplatz hinweg geht der Spaziergang weiter über den Kohlmarkt, wo sich ein „k. u. k.“-zertifiziertes Geschäft an das nächste drängt. Einen Blick wert ist die Gruft der Michaelerkirche, aber sie ist nichts für schwache Nerven. Seit Jahrhunderten werden dort die Leichen der Verstorbenen durch die eigentümliche Kombination aus Luftfeuchtigkeit und konstanter Temperatur mumifiziert. In der Michaelerkirche wurden übrigens in den 1950er Jahren auch Teile der Filme der „Sissi“-Trilogie mit Romy Schneider gedreht.

Wir spazieren aber weiter an den luxuriösen Geschäften vorbei und kommen auch am ersten Wiener Kaffeeröster – dem Geschäft von Julius Meindl – vorbei. Dort schlagen wir den Weg nach rechts über den Graben ein. Am Josephsbrunnen, der Pestsäule und dem Leopoldsbrunnen vorbei führt uns unser Weg in Richtung Stephansdom.

Wem auf dem Weg die Pestsäule ins Auge fällt, der sollte sich einen Moment Zeit nehmen und sie genauer betrachten. Als im 17. Jahrhundert die Pest in Österreich wütete, versprach Kaiser Leopold I. sich bei Gott zu bedanken, wenn die Seuche bald weiterzöge und möglichst viele das Unglück überlebten. Blickt ganz nach oben, wo Kaiser Leopold I. von der Dreifaltigkeit bewacht herabschaut, und guckt euch sein Gesicht genauer an. Leopold litt an der sogenannten Habsburger Unterlippe, ein Ergebnis der engen Verwandtschaften innerhalb der Familie. Sie wird geprägt von einer stark ausgeprägten Unterlippe, die aus einer erblichen Überentwicklung des Unterkiefers resultiert. Die Habsburger Unterlippe spukt immer wieder durch die Literatur, nicht zuletzt in Stefan Zweigs historischem Roman „Magellan“.

Ein Eisen im Stock

Doch bevor wir in den Dom eintreten, machen wir noch einen Zwischenstopp beim sogenannten „Stock im Eisen“ auf dem Stock-im-Eisen-Platz, dort, wo sich Singerstraße und Kärntnerstraße treffen. Der Stock im Eisen ist ein sogenannter Nagelbaum, eine Spur des Mittelalters, die sich bis heute erhalten hat: Es ist nicht ganz klar, warum Nägel in den Baumstamm geschlagen wurden, doch man nimmt an, es habe sich hierbei um sogenannte Votivgaben gehandelt. Nägel waren im Mittelalter teuer, und Menschen schlugen zum Dank für Heilung oder den Schutz vor Unfällen Nägel in Kreuze, um Gott für den Schutz zu danken.

Rund um den Baum liegt ein Eisen mit Vorhängeschloss, das der Sage nach vom Teufel selbst dort hingehängt wurde und nicht geöffnet werden kann. Das stimmt: Das Vorhängeschloss ist nämlich eine Attrappe, die vermutlich im 16. Jahrhundert vom Besitzer des Hauses, an dem der Stock im Eisen steht, angebracht wurde.

Vom Stock im Eisen blickt man direkt in die Singerstraße hinein, in der sich auch das Deutschordenshaus befindet, jenes Gebäude, aus dem Mozart mit einem Fußtritt zur Tür hinaus befördert wurde. In diese Straße mündet die Liliengasse, ein sogenanntes „Armensündergassl“: Verbrecher wurden im Mittelalter vom Stadtgefängnis über die Liliengasse zur Hinrichtungsstätte geführt. Entsprechend viele Geister wanken über diese Gasse: Immer wieder sollen wankende Gestalten auftauchen, die leise ihr Leid beklagen.

Unter, in und auf dem „Steffl“

Wir beenden den Stadtspaziergang beim Stephansdom, von den Wiener liebevoll „Steffl“ genannt. Das Wahrzeichen des Ersten Bezirks ist einen Besuch wert: Es lohnen sich sowohl der Weg hinein als auch nach oben und unten. Überall finden sich Sagen, Mythen und Mysterien!

Der Stephansplatz war ursprünglich der Stadtfriedhof, der Dom selbst wurde auf römischen Grabplatten errichtet – im Portal der Kirche findet man, wenn man genau hinschaut, sogar eine eingemauerte Grabplatte! Rechts vom Eingang sieht man gleich neben dem Tor eine Glastafel, hinter der der Code „O5“ vor Wind und Wetter geschützt wird. Österreich leistete den nationalsozialistischen Besetzern damit Widerstand: Eine der Gruppen hatte das Geheimzeichen „O5“, wobei die Zahl fünf für den fünften Buchstaben im Alphabet stand: „OE – Österreich“.

Unter dem Stephansplatz liegen die Ruinen einer Kirche, die man nur über eine Falltür betreten konnte, genannt „Virgil-Kapelle“. Daneben, in den Katakomben, spaziert man über hohe Mauern und Gänge und kann sogar ein Pestgrab besichtigen. In den Katakomben finden sich auch weitere Überreste der Habsburger, vor denen es in Wien nur so wimmelt. Seit dem Mittelalter wurden die Eingeweide der Habsburger hier in Urnen zur letzten Ruhe gebettet.

In der Gruft begegnet uns außerdem eine Tafel mit Inschrift: „An dieser Stätte wurde des unsterblichen W.A. Mozart Leichnam am 6. Dez. 1891 eingesegnet“. Mozart wurde hier aufgebahrt, um außerhalb der Stadt auf dem Friedhof St. Marx beigesetzt zu werden. Ende des 19. Jahrhunderts war es üblich, Leichen außerhalb der Stadt zu begraben, um Seuchen vorzubeugen. Um den Verbleib von Mozarts Leichnam gibt es einige Geschichten, die immer wieder auch ihren Weg in Literatur und Film, zum Beispiel den Krimi „Mozarts letzte Arie“ von Matt Rees oder Folge 324 der „Simpsons“ („Geschichtsstunde mit Marge“), finden. Es ist bis heute nicht klar, welches Grab genau zu Mozart gehört, aber wir wissen immerhin, wo er mehr oder weniger zu finden ist.

Es gibt in Wien mehrere Aussichtspunkte neben den Glockentürmen des „Steffls“: Hier hat sich Wortklauberin Erika auf ein Hochhaus geschlichen.

 

Teuflischer Turmbau

Der Weg nach oben, auf den Glockenturm – man kann beide besichtigen – lohnt sich allein schon wegen des Panoramablicks über Wien. Für die Frage, warum ein Turm vollendet ist und der andere nicht, gibt es übrigens noch eine letzte, teuflische Erklärung.

Baumeister Buxbaum wollte seinen Meister, der den ersten Turm erbaut hatte, verdrängen und versprach, innerhalb kürzester Zeit einen zweiten Turm zum Stephansdom zu bauen. Doch die Bauarbeiten gingen nur langsam voran und als ihm eines Tages nach Mitternacht ein nach Schwefel riechender Herr erschien und einen zwielichtigen Handel anbot, zögerte er nicht, einzuschlagen. Die einzige Bedingung war, für die Zeit des Baus weder den Namen Gottes, noch anderer Heiliger in den Mund zu nehmen. Buxmann, der ohnehin nicht sehr religiös war, versprach sich daran zu halten. Ab dem Moment gingen die Bauarbeiten wie durch magische Hand angetrieben voran, und der Turm war fast vollendet.

Man sollte dazu erwähnen, dass Buxmann jung und ungestüm war, und wahnsinnig verliebt: in die Tochter seines Meisters, Maria. Kurz vor der Vollendung des Turms stand er auf dem Gerüst, erblickte die Angebetete und rief laut ihren Namen – und vergaß, dass sie sich ihren Namen mit einer katholischen Heiligen teilte. Kaum hatte der Name seine Lippen verlassen, züngelte das Höllenfeuer aus dem Nichts aus dem Boden und verschlang das Gerüst mit lautem Krachen: Buxmann verschwand und wurde nicht wiedergesehen.

Wenn ihr diesen Spaziergang durch Wien unternehmen wollt, rechnet mit etwa 1,5 Stunden. Wer aber noch mehr über die Geheimnisse und das Verborgene von Wien erfahren möchte, kann auch Fremdenführerin Annu Hasenzagl auf einer ganz privaten Tour durch die Hauptstadt Österreichs begleiten. Schreibt ihr eine E-Mail an annu.hasenzagl[at]live.at mit dem Betreff „Stadtspaziergang“! In diesem Sinne wünschen Erika und Annu viel Freude beim Entdecken. Wir empfehlen für die Gruselstimmung einen Wiener Herbstabend abzuwarten. Viel Spaß!

Literatur (1 & 2 Teil des Beitrags)

Erwähnte Romane, Erzählungen, Gedichte, Theaterstücke und Filme

  • 1865, 2015. 150 Jahre Wiener Ringstraße – Dreizehn Betrachtungen. Herausgegeben von WienTourismus. Metroverlag. 2014.
  • Die Blutgräfin. Nachtblut. Von Grafenwald, Gothic Empire Records, Soulfood. Deutschland. 2006.
  • Die Sagen und Legenden der Stadt Wien. Gustav Gugitz. Hollinek. 1952.
  • Die schönsten Sagen aus Wien. Wolfgang Morscher, Berit Mrugalska. Haymon. 2010.
  • Die weisse Frau in der Hofburg. Anton Langer. Selbstverlag. 1870.
  • Dracula. Bram Stoker. Übersetzt von Stasi Kull. Anaconda. 2008.
  • Heldenplatz. Thomas Bernhard. Suhrkamp. 1988.
  • Kapuzinergruft. Joseph Roth. Dtv. 1978.
  • Laut und Luise. Ernst Jandl. Walter Verlag. 1966.
  • Magellan: Der Mann und seine Tat. Stefan Zweig. Herausgegeben von K. Beck. Fischer. 1983.
  • Mozarts letzte Arie. Matt Rees. Beck. 2012.
  • Sissi. Regie und Drehbuch: Ernst Marischka. Romy Schneider, Karlheinz Böhm, Magda Schneider. Erma-Film. Österreich. 1955. BK-FSK: ab 6 Jahren.
  • The Simpsons: Geschichtsstunde mit Marge. Regie: Mike B. Anderson. Drehbuch: Brian Kelley. Dan Castellaneta (Norbert Gastell), Julie Kavner (Elisabeth Volkmann), Nancy Cartwright (Sandra Schwittau). FOX Network. USA. 2004. BK-FSK: ab 6 Jahren.
  • Winterbergs letzte Reise. Jaroslav Rudiš. Luchterhand. 2019.

Zum Nachlesen

  • 111 Wiener Orte und ihre Legenden: Reiseführer. Sophie Reyer, Johanna Uhrmann. Emons. 2019.
    Die Habsburger und das Übersinnliche: Die weiße Frau in der Hofburg und andere Phänomene. Gabriele Praschl-Bichler. Amalthea. 2003.
  • Die versunkene Kiste. Der Bau der Wiener Hofoper am Ring. Julia Theresa Friehs. Habsburger.net.
  • Dunkle Geschichten aus dem alten Wien. Abgründiges & Mysteriöses. Barbara Wolflingseder. Pichler. 2012.
  • Habsburgs schräge Vögel. Extravaganzen und Allüren des Herrscherhauses. Gabriele Hasmann. Ueberreuter. 2018.
  • Mörderisches Wien. City-Guide zu den Schauplätzen des Schreckens. Benda Richard, Harald Seyrl. Edition Seyrl. 1996.
  • Mumienstadt Wien: Menschen – Mumien – Konservierte Körper. Hagen Schaub, Robert Bouchal. Pichler. 2013.
  • Nur in Wien. Ein Reiseführer zu einzigartigen Orten, geheimen Plätzen und ungewöhnlichen Sehenswürdigkeiten. Duncan J. D. Smith. Brandstätter. 2012.
  • Spuk-Guide Wien. Die schaurigsten Plätze der Stadt. Gabriele Hasmann. Ueberreuter. 2017.
  • Unheimliches Wien: Gruselige Orte – Schaurige Gestalten – Okkulte Experimente. Gabriele Lukacs, Robert Bouchal. Pichler. 2013.
  • Wien literarisch. Herausgegeben von Christine Hehle. Aufbau Taschenbuch. 2012.

[tds_note]Den ersten Teil des Beitrags „Ein Wiener Spuk-Spaziergang“ findet ihr hier. // Ein Beitrag zum Special #Todesstadt. Hier könnt ihr alle Beiträge lesen. // Mehr über Annu und ihre Führungen könnt ihr hier erfahren: www.tours-with-annu.at[/tds_note]

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