Ein vorschnelles Urteil und die Wahrheit

von | 19.09.2016 | Belletristik, Buchpranger

nach-einer-wahren-geschichteBücher können Überraschungen enthalten. Zeilenschwimmerin Ronja ist froh, dass sie wieder so ein Buch lesen konnte. Was an „Nach einer wahren Geschichte“ so überraschend ist, ist hier zu lesen.

Die Ich-Erzählerin Delphine ist schon länger Autorin, doch ihr letzter autobiographischer Roman bringt sie in neue Sphären. Während sie im Erfolgstaumel schwebt, lernt sie L. kennen. Was zuerst aussieht wie eine ganz normale, wenn auch sehr intensive Freundschaft, entwickelt sich bald zu einer bedrohlichen Situation für Delphine. Es treffen gehässige anonyme Briefe ein und bald schon kann sie kein einziges Wort mehr schreiben.

Es ist schändlich, ein Buch vorschnell zu beurteilen, doch es kommt immer wieder vor. Gerade jetzt ist es mir mit diesem Roman passiert. Der Klappentext hatte mich zwar neugierig gemacht, doch das Cover rief: „Seht her! Ich bin ein anstrengendes Buch! Ich brauche nicht schön zu sein.“ Nachdem ich die ersten Seiten gelesen hatte, meinte ich zu wissen, welche Art Geschichte dies ist: eine dieser schwermütigen französischen Beziehungskisten mit schwierigen Charakteren und viel Drama. Die Ich-Erzählerin ging mir schon bald auf die Nerven mit ihrem ständigen „Ich weiß nicht mehr“, „Ich glaube“, „Vielleicht“, „Möglicherweise“ und „Ich kann nicht sagen“. Ich fragte mich, was diese Person überhaupt kann oder weiß? Nichts! Passive Figuren sind mir meistens unsympathisch. Die zweite Hauptperson, deren Name mit L. abgekürzt wird, war mir ebenfalls unsympathisch, aus anderem Grund allerdings. Wie gesagt, das Urteil fiel früh bei diesem Buch.

Dennoch musste ich weiterlesen. Nicht müssen im Sinne von „verpflichtet es zu lesen“, sondern müssen im Sinne von „wollen“. Denn lesen lässt es sich sehr flüssig und die ständigen Vorausdeutungen auf das scheinbar so dramatische Ende machen neugierig. Es war etwas in dem Text, das mich mitgezogen hat und das war gut so. Denn das Ende hat mein Urteil über den Roman vollständig gewendet.
„Nach einer wahren Geschichte“ ist keine schwermütige französische Beziehungskiste, auch wenn die Beziehung zwischen der Ich-Erzählerin Delphine und L. ein Kernelement des Romans ist. Es ist auch – trotz des Titels – kein autobiographischer Text (zumindest hoffe ich das für die Autorin). Vielmehr verweist der Titel auf das Spiel, das der Text mit den Lesern spielt. Das Spiel von Wahrheit und Fiktion: Wo fängt das eine an, wo hört das andere auf? Was ist eigentlich wahr?

„Nach einer wahren Gesichte“ ist ein wirklich gelungener Roman, dessen letzte 20 Seiten, insbesondere das letzte Wort, es noch mal in sich haben. Besonders empfehlenswert ist es für alle, die sich etwas mit Literatur und Erzählweisen auskennen oder erzählerische Tricks zu schätzen wissen.

ENDE*

Nach einer wahren Geschichte. Delphine de Vigan. Übersetzung: Doris Heinemann. DuMont Buchverlag. 2016.

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Das Bücherstadt Magazin wird herausgegeben vom gemeinnützigen Verein Bücherstadt. Unter dem Motto "Literatur für alle!" setzt sich die Redaktion mit der Vielfalt der Literatur im Sinne des erweiterten Literaturbegriffs in verschiedenen medialen Aufbereitungen auseinander.

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