Manche Autor*innen scheinen nicht in der Lage zu sein, weniger als 600 Seiten zu schreiben. Frank Schätzing gehört wohl dazu, wie auch sein zuletzt erschienener Roman „Die Tyrannei des Schmetterlings“ deutlich macht. Zeilenschwimmerin Ronja hat sich ein Beispiel genommen und auch etwas mehr geschrieben.
Als am Fluss eine Frauenleiche gefunden wird, führen die Ermittlungen Undersheriff Luther Opoku schnell zu einer gut bewachten Forschungseinrichtung nahe seines beschaulichen Wohnorts in der kalifornischen Sierra. Dort wird er überraschenderweise sehr freundlich empfangen und ihm wird volle Kooperation zugesagt. Bei einer Führung über das Gelände dauert es nicht lange, bis Luther auf einen Verdächtigen trifft und die Verfolgung aufnehmen muss. Diese endet jedoch ganz anders, als Luther es sich jemals hätte vorstellen können.
Nach „Der Schwarm“ und „Limit“ ist dies der dritte Roman von Schätzing, den ich las. Im Vergleich habe ich den Eindruck, dass sich „Die Tyrannei des Schmetterlings“ etwas leichter lesen lässt. Auch wenn Schätzings Schreibstil schon immer flüssig war, ergaben sich für mich bei den vorigen Werken einige Längen, wohl hauptsächlich bedingt durch die umfangreichen Exkurse in wissenschaftliche Gefilde. Diese sind zwar oftmals interessant und sicherlich gut recherchiert, haben jedoch den Fluss der Geschichte manchmal ungünstig unterbrochen oder waren in ihrem Umfang fast erschlagend. Dieses Problem gibt es in „Die Tyrannei des Schmetterlings“ nicht, tatsächlich sind mir überhaupt keine vergleichbaren Exkurse aufgefallen. Die Recherchen zum Thema sind hier etwas mehr verpackt.
Trotz der vielen hundert Seiten lässt sich der Roman schnell lesen, dank einer guten Portion Action und einigen Wendungen, die – selbst falls man einzelne vorausgeahnt hat – Spannung erzeugen. Tatsächlich passiert ziemlich viel. Auf der Handlungsebene funktioniert das wunderbar. Thematisch jedoch war es mir eigentlich schon zu viel.
An dieser Stelle ziehe ich schon einmal ein vorläufiges Fazit, da ich im Folgenden nicht spoilerfrei weiterschreiben kann: „Die Tyrannei des Schmetterlings“ ist ein recht sicherer Kauf für alle, die Schätzings und ähnliche Romane mögen. Für alle anderen gilt: Beim Lesen sollte eine Bereitschaft da sein, sich auf einen Genre-Übergang von Krimi zu Thriller bis hin zu Science-Fiction einzulassen.
[tds_warning]Achtung! Ab hier nicht mehr spoilerfrei![/tds_warning]
Wie gesagt, thematisch war es mir zu viel. Ich hatte mich auf Grund von Hörensagen auf einen Roman über künstliche Intelligenz eingestellt, die auch eine zentrale Rolle spielt, keine Frage. Wesentlich ausschlaggebender und überwältigender war jedoch die Einführung von Paralleluniversen, in denen die gleichen Menschen bis auf wenige Abweichungen ein ähnliches Leben führen. Jede potentielle Tat oder Entwicklung findet also in irgendeinem Paralleluniversum statt.
Nun kann ich mir Paralleluniversen noch eher erklären als Zeitreisen, da es hier nicht zwangsweise zu paradoxen, sich selbsterzeugenden Handlungen kommt (wobei es dennoch eine Art Zeitreise gibt, da die Paralleluniversen nicht alle dieselbe Zeitebene haben), allerdings ist das Konzept immer noch so komplex und abstrakt, dass es meine Vorstellungskraft etwas herausfordert. Da das ebenso umfangreiche (aber weniger abstrakte) Thema der künstlichen Intelligenz schon für unzählige Bücher reicht, gilt dies umso mehr für Paralleluniversen. Beides ist auf eigene Art und Weise faszinierend, aber zusammengenommen kommt beides zu kurz.
Hinzu kommt noch die bereits erwähnte Zeitreise, da mehrere der von Luther bereisten Paralleluniversen in naher beziehungsweise ferner Zukunft spielen. Während in ersterem ganz am Rande diverse Innovationen und Möglichkeiten einer technikorientierten, grünen Zukunft erwähnt werden (auch das kann ganze Bücher füllen), ist das zweite so weit von einer menschlichen Welt entfernt, dass es weniger den Eindruck einer Paralleluniversumserde als eines Alien-Planeten aus „Star Trek“ erweckt.
Zuletzt muss ich auch noch ein wenig Kritik an der Handlungsebene äußern, eigentlich nur an der Auflösung. Also hier noch einmal eine …
[tds_warning]Verschärfte Spoilerwarnung![/tds_warning]
Natürlich ist am Ende die KI „der Bösewicht“. Ich verstehe, warum das in vielen Romanen oder Filmen zu künstlicher Intelligenz der Fall ist: die Angst vor einem Supercomputer, der sich von seinen fehlerhaften Schöpfern lossagt, weil er Maschinen wegen ihrer Zuverlässigkeit und strikten Logik als dem Menschen überlegen ansieht. Das ist zum einen Ausdruck einer nachvollziehbaren Reaktion auf (technische) Neuerungen: Nicht alles, was neu ist, ist gut. Gleichzeitig verkörpert es auch Selbstkritik, wenn die KI ihre Machtübernahme mit der Bedrohung der Menschheit für den Planeten und sich selbst rechtfertigt. Allerdings würde ich gerne auch mal eine Geschichte lesen oder sehen, in der es anders kommt. Einfach nur für die Abwechslung.
Tatsächlich weiß ich nicht, ob dieser letzte Punkt eine wirkliche Kritik ist, aber: Paralleluniversen sind auch ein recht leichter Ausweg, um eine Geschichte enden zu lassen, nicht wahr? Denn schließlich ist alles gleichzeitig möglich: Ein Protagonist kann sterben – oder nicht. Die große Liebe kann kommen – oder nicht. Die Menschheit wird von einem durchgedrehten Computer ausgelöscht – oder nicht. Einerseits ist dies keine gängige literarische Praxis und somit eine schöne Abwechslung. Andererseits stellt es mich auch nicht ganz zufrieden.
Ähnlich ist auch mein abschließendes Fazit: Schreibstil und Handlung sagen mir zu und machen das Buch zu einer kurzweiligen und spannenden Leseerfahrung. Thematisch allerdings hätte ich mehr gebraucht oder vielmehr weniger.
Ach so, eines noch: Warum heißt dieser Roman eigentlich „Die Tyrannei des Schmetterlings“? Es kommen gar keine Schmetterlinge vor …
Die Tyrannei des Schmetterlings. Frank Schätzing. Kiepenheuer & Witsch. 2018. Erhältlich in der Buchhandlung deines Vertrauens.
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