Ein Blick hinter die Fassade

von | 22.04.2016 | Buchpranger, Graphic Novels, Comics, Manga

Fünf Jahre ist es nun schon her, dass Japan von drei Katastrophen heimgesucht wurde, die zu einer verschmolzen. Zuerst ein Erdbeben, dann ein daraus entstandener Tsunami und schließlich zu Explosionen und Austritt von Radioaktivität in dem von Beben und Wasser beschädigten Atomkraftwerk Fukushima I. „Reaktor 1F“ bietet nun einen ungewohnten Einblick in das, was danach begann. – Von Zeilenschwimmerin Ronja

Reaktor1F1F. Diese Abkürzung ist das Erste, was die Lesenden von Kazuto Tatsuta (übrigens ein Künstlername, der zum Teil auf einem Ort unweit von 1F basiert) lernen.

„Das [1F und 2F] sollen ursprünglich interne Kürzel bei Tepco gewesen sein, doch inzwischen sind sie in aller Munde.“

„Reaktor 1F“ ist keine Geschichte im eigentlichen Sinne. Es ist – so wie der vollständige Titel besagt – vor allem ein Bericht. Tatsächlich liest sich der Manga teilweise sogar wie eine Bedienungsanleitung: Welche Schutzanzüge und spezielle Kleidungsstücke müssen wo an- oder ausgezogen werden? Wie verläuft ein typischer Arbeitstag auf dem Gelände von 1F?

Trotzdem erzählt der Manga auch die Geschichte des Autors. Weshalb er sich für die anstrengende und gefährliche Arbeit im Atomkraftwerk entschied und wie schwierig es war, tatsächlich dort arbeiten zu können. Nicht etwa, weil er übermäßig durch Kontrollen aufgehalten wurde, sondern weil die meisten Jobs schon vergeben waren, kaum dass sie ausgeschrieben wurden, und einige Subunternehmen ihre Spiele mit den Arbeitern trieben.

Normalität wo keine herrscht

Es ist ein ganz anderer Blick, aus dem Kazuto Tatsuta berichtet. Nicht der Blick der Medien oder Politiker, nicht der der Tepco-Pressesprecher oder Atomkraftgegner. Es ist irgendetwas dazwischen. Ziemlich abgeklärt und erstaunlich unaufgeregt. Dennoch ist natürlich auch Angst und Wut dabei. Kazuto Tatsuta und seine Kollegen fühlen sich aber auch verantwortlich und wollen helfen, wo sie können. Die Aussicht auf gute Bezahlung für Arbeit in stark verstrahlten Bereichen bringt selbstverständlich zusätzliche Motivation.

Diese Sichtweise ist ungewohnt, vielleicht anfangs sogar etwas verstörend. Aber danach ist es bewundernswert, mit welcher Selbstverständlichkeit und Professionalität die verschiedenen Firmen und vor allem ihre Angestellten an die Arbeit gehen. Bis auf die Tatsache, dass 1F wohl einer der gefährlichsten Arbeitsplätze der Welt ist und demnach auch besondere Sicherheitsvorkehrungen für die Menschen dort eingehalten werden müssen („Auf Ihre Sicherheit!“), herrscht dort scheinbar ein sehr ‚normaler‘ Arbeitsalltag. Kollegentratsch, derbe Witze, Essenspausen, Beschwerden über den Arbeitgeber und die mangelnden Parkplätze auf dem Firmengelände.

Was ist die Wahrheit?

Sprachlich ist der Manga keine Meisterleistung, aber die oft sehr detailgetreuen Darstellungen der Umgebung bieten dafür einen guten Ausgleich. Dazu gibt es auch ein paar Zusatzinformationen über Orte in der Sperrzone, die am Ende einiger Kapitel eingeworfen werden.

Hervorzuheben sind besonders die Bemühungen des Autors, korrekte Angaben zu den Abläufen und Sicherheitsstandards zu geben. Ob es dagegen tatsächlich notwendig war, die Namen der Subunternehmen von Tepco zu verändern, vermag ich nicht zu beurteilen. Es mag teilweise fast den Eindruck erwecken, als nehme Kazuto Tatsuta die Firmen in Schutz. Dazu ein Zitat aus dem Vorwort von Karyn Nishimura Poupée:

„Natürlich kann man einiges einzuwenden finden, könnte man gelegentlich meinen, der Held sei zu willfährig, ein wenig naiv, sich des Ausmaßes der Gefahr nicht bewusst, er stelle sich auf die Seite des Tepco-Konzerns. Das mag sein… Aber er ist es, der eine Wahl trifft, eine Sicht auf die Dinge anbietet. Der Autor nimmt für sich nicht die Wahrheit in Anspruch […]“

„Reaktor 1F“ hinterlässt das Gefühl tiefer Bewunderung für alle, die sich in und rings um 1F engagieren, aber auch ungläubiges Staunen über manch anderes.

Reaktor 1F – Ein Bericht aus Fukushima (Teil 1). Kazuto Tatsuta. Carlsen Verlag. 2016. Ab 14 Jahren.

 

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