Ein Abenteuer aus dem Versandhauskatalog

von | 01.09.2018 | Buchpranger, Kinder- und Jugendbücher

Wie man mit drei Dollar reich wird? In Davide Morosinottos Roman „Die Mississippi-Bande” kann man es erfahren. Worteweberin Annika ist mit auf eine abenteuerliche Reise durch Amerika gekommen.

1904 im Bayou in Louisiana: Julie, Tit, Te Trois und Eddie fischen eine Blechbüchse aus dem Wasser – darin: drei ganze Dollar! Was man damit alles anstellen kann… Aus dem Versandhauskatalog der Firma Walker & Dawn bestellen die Kinder kurzerhand einen Polizeirevolver. Doch als der Karton endlich ankommt, liegt darin nicht Best.-Nr. 61R510 sondern eine kaputte Uhr, mit der das Abenteuer seinen Lauf nimmt… Wild entschlossen bricht die Mississippi-Bande auf nach Chicago, um sich eine Belohnung für die Uhr zu sichern. Doch unterwegs, aber auch am Ziel in der großen Stadt, lauern Gefahren.

Der mutige, fast tollkühne Te Trois erzählt den ersten Teil der Geschichte um die Mississippi-Bande. Dabei verhaspelt er sich manchmal oder verliert den Faden. In Te Trois‘ Teil spielt die Geschichte im Bayou, einem Mississippi-Delta. Mit Beginn des nächsten Teils, der die Reise mit dem Schiff und dem Zug nach Chicago schildert, wechselt auch der Erzähler, nun ist es Eddie, der über die Ereignisse berichtet. Eddie, der Schamane, der von Te Trois nicht immer ganz für voll genommen wird, ist deutlich vorsichtiger und nachdenklicher und hat einen ganz anderen Blick auf die Geschehnisse.

„‚Mit jeder Reise wird dein Gepäck schwerer‘, hatte Joe immer gesagt. Eine schwere Tasche voller Geheimnisse, Pistolen, Ängste und Erinnerungen vergangener Tage. Es war nicht wirklich das, was ich mir gewünscht hatte, aber ich hatte keine Wahl gehabt. Die hat niemand.“ (S. 164)

Während der Reise lernt Eddie, auf seine Fähigkeiten zu vertrauen und gewinnt an Selbstbewusstsein, so dass bald sagen kann: „Mir kam es vor, als hätte ich mein bisheriges Leben auf Reisen verbracht, und ich fühlte mich wesentlich älter als vor einer Woche, als ich noch zu Hause bei meinen Eltern gewohnt hatte.“ (S. 189)

Eine kaputte Uhr und ein Erbe

Durch die wechselnden Erzähler liest sich Morosinottos Roman sehr abwechslungsreich und auch die dritte Erzählerin, Julie, hat eine ganz eigene Stimme, mit der sie die sich überschlagenden Ereignisse in Chicago schildert: Zuerst werden die Kinder festgenommen, Julie landet in einer Besserungsanstalt, wo die Insassinnen schrecklich behandelt werden und hart arbeiten müssen. Bei der Arbeit kann Julie allerdings einiges herausfinden: Miss Dawn, die Mitinhaberin des Versandhauses, wurde nämlich vor einigen Jahren ermordet und wahrscheinlich gehörte ihr die kaputte Uhr. Als die Kinder, schließlich befreit, die Uhr zum anderen Firmeninhaber Mister Walker bringen, zeigt dieser sich nicht gerade von seiner besten Seite. Da muss mehr dahinterstecken, schließen die vier und kommen bald dem Erbe von Miss Dawn auf die Spur.

Sichtbare und unsichtbare Spuren

Julie, von Te Trois liebevoll Joju genannt, und ihr meist stummer Bruder Tit sind zwei besonders berührende Charaktere: Ihre Mutter arbeitet als Prostituierte. Tit und Jolie haben unterschiedliche Väter, Tit ist dunkelhäutig. Im Ort im Bayou wird die ganze Familie abschätzig behandelt, und auch wenn Te Trois selbst aus keiner wohlhabenden Familie stammt, verbietet seine Mutter ihm den Umgang mit Julie. Doch auch zu Hause ergeht es dem Mädchen nicht gut:

„Ich wusste nicht, ob an dem blauen Fleck Julies Mutter schuld war oder aber jemand anderer, vielleicht einer der vielen Männer, die Julies Mutter in der Hütte hinter der Plantage hin und wieder besuchten. Auf jeden Fall, dachte ich, ist es besser keine Fragen zu stellen und den Mund zu halten. Denn es gibt Schläge, die sichtbare Spuren hinterlassen, und andere Schläge, die unsichtbare Spuren hinterlassen, und gewöhnlich sind es Letztere, die stärker wehtun.“ (S. 33)

Auf der Reise schließlich wird vor allem Tit von vielen Menschen herablassend behandelt. Auch wenn den Kindern das einen Vorteil bringt, denn als dunkelhäutiger „Diener“ darf Tit ermäßigt an Bord der Louisiana Story gehen – nicht ganz unpraktisch, wenn man mit wenig Geld reist. Trotzdem kommt durch die beiden Figuren ein sehr ernster Unterton mit in die Geschichte hinein, der sich in Julies Teil noch verstärkt. Sie schildert, wie sie eine Mauer um sich herum errichtet, um ihre Gefühle nicht zu zeigen, und berichtet ihren Freunden deswegen auch nicht von den schrecklichen Geschehnissen in der Chicagoer Besserungsanstalt.

Die Erfindung des Hotdogs

Auch wenn das Ende der Geschichte ebenfalls zumindest zweischneidig erscheint, hat „Die Mississippi-Bande“ auch lustige Elemente. En Passant erfindet zum Beispiel Eddie in Saint Louis den Hotdog:

„Brot und heiße Würstchen, dachte ich. Und vielleicht noch einen Spritzer Senf. Ich war mir sicher, diese Idee würde eine Zukunft haben.“ (S. 188)

Und auch der erste Teil, aus Te Trois Perspektive geschildert, ist hauptsächlich lustig. Hinzu kommt, dass die ernsten Elemente sich mit den abenteuerlichen Passagen abwechseln, in denen Rätsel gelöst, von Zügen gesprungen und Verfolger abgeschüttelt werden. So findet der Roman eine gute Balance zwischen ernsten und unterhaltsamen Tönen.

Landkarten, Zeitungsausschnitte, Katalogseiten

„Die Mississippi-Bande“ ist wunderbar aufwändig gestaltet: Jedes Kapitel wird von einer Seite aus dem Versandhauskatalog (erster Teil), einer Landkarte (zweiter Teil) oder einem Zeitungausschnitt (dritter Teil) eingeleitet, die sich auf die Handlung beziehen und die Leserinnen und Leser direkt mit ins Jahr 1904 nehmen. Auch die Jury des Deutschen Jugendliteratur Preises hebt den „ganz besonderen Charme“ hervor, der durch die Gestaltung entsteht.

Doch nicht nur, dass das Buch ein echter Hingucker ist, die „historischen Dokumente“ erfüllen auch in der Geschichte wichtige Funktionen: Die Artikel über den Mord an Miss Dawn laden zum Miträtseln ein, noch bevor es in der Romanhandlung überhaupt soweit ist. Die Landkarten mit kurzen Informationstexten helfen bei der Orientierung und liefern einiges an Hintergrundwissen. Und spätestens das Bild vor dem letzten Kapitel, das von Tit erzählt wird, spannt einen wunderbaren Bogen und wirft durch das Durchbrechen der Erzählebene gleichzeitig Fragen auf. Mehr sei hier dazu aber nicht verraten.

Nicht nur durch die letzte Wendung, auch durch die von Teil zu Teil wechselnde Erzählerfigur kommt Morosinottos Roman sehr ambitioniert daher, ohne junge Leserinnen und Leser ab 10 Jahren aber damit zu überfordern, immerhin bleibt alles auch lustig und spielerisch. Die Nominierung für den Deutschen Jugendliteratur Preis 2018 rechtfertigt das, in Kombination natürlich mit der spannenden Geschichte mit ernstem Unterton, allemal.

Die Mississippi-Bande. Wie wir mit drei Dollar reich wurden. Davide Morosinotto. Aus dem Italienischen von Cornelia Panzacchi. Gestaltung: Stefano Moro. Thienemann. 2017.

 

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  1. Liebes Tagebuch… – Bücherstadt Kurier - […] Thema haben sich da aus­ge­wirkt. Da ich aber ein gro­ßer Fan von Davide Moro­si­not­tos „Die Mississippi‐Bande“ bin, wollte ich…

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