Drüberleben

von | 19.05.2014 | Belletristik, Buchpranger

„Ich möchte feierlichst erklären, daß ich schon mehrere Male ein Insekt werden wollte. Doch nicht einmal dazu ist es gekommen. Ich schwöre Ihnen, meine Herrschaften, daß zuviel Bewußtsein – eine Krankheit ist, eine richtige Krankheit.“ (Dostojewskij – „Aufzeichnungen aus dem Kellerloch“)

Mit einem Zitat Dostojewskijs beginnt die Autorin ihren Debutroman über Depressionen und den Weg diese zu überwinden. Den russischen Literaten voran zu stellen scheint auf beeindruckende Weise die Geschichte der Protagonistin Ida Schaumann in einem Satz zusammenzufassen: Dostojewskijs namenloser Erzähler fristet seit geraumer Zeit sein Dasein in einem Kellerloch, um sich den Menschen und der Gesellschaft zu entziehen, gegen die er aggressiv und zynisch wettert – Eine analytische Kritik am modernen Menschen. Ida Schaumann trägt ebensolche Charakterzüge des russischen Erzählers und stößt mit ihrem steten Intellektualisieren auf Unverständnis.

„Ich will unter meinem Bett verschwinden, zwischen den Monstern liegen und meinen Kopf rhythmisch auf den Boden hämmern, damit das Geräusch die Gedanken übertönt.“

Ida Schaumann, 24 Jahre, leidet seit 6 Jahren unter Depressionen. Zum wiederholten Male stellt sie sich ihrer Krankheit und begibt sich in eine psychiatrische Klinik. Mitpatienten und Therapeuten werden zynisch kommentiert, unsensibel reagiert sie auf Annäherungsversuche oder hüllt Gespräche in einen wütenden Schwall von Ironie, um niemanden in Ihr Innerstes blicken zu lassen. Sie weiß um ihren Charakter, reagiert an manchen Tagen auf eine Weise, wie sie denkt, dass diese von ihr erwartet wird, mimt den Roboter, kreiert an einigen Stellen eine Farce, vermeidet den Klinikalltag mit Chancen auf Besserung zu „durch“leben, sondern – wie es der Buchtitel treffend formuliert – zu „drüber“leben. Ida lebt nicht mit den anderen Menschen, sondern an ihnen vorbei – oder sind es die Anderen? Auch zwischen den Zeilen lässt sich viel lesen.

„Gefühle, das sind diese Dauergäste, die man nicht mehr loswird, die sich breitmachen in allen Räumen des Verstandes und Botschaften wie Leuchtraketen abfeuern, auf dass ja nie jemand sie übersehe.“

Vor geraumer Zeit entdeckte ich Kathrin Weßlings (*1985 in Ahaus) Weblog “Drüberleben“, ihr Schreibstil begeisterte mich. Die Autorin erlangte 2008 zahlreiche Siege als Poetry Slammerin, seit 2010 besteht ihr Blog, in welchem sie ihre eigenen Depressionen verarbeitete. Weßlings Handschrift zeigt in ihrer Rhythmik deutliche Einflüsse des Poetry Slams. Poetische Wortkleider hüllen Abgründe in einen Frühlingsduft, der keineswegs verwirrt, sondern schwer zu fassenden Inhalt mit einer Kraft berührend übersetzt, ohne mitleidig oder banal zu werden. Ein Buch über Depressionen und ihre Therapie? Ein Wagnis! Doch Kathrin Weßling bleibt in all ihren Ausdrucksformen wunderbar authentisch – Nicht nur Betroffene finden sich an verschiedenen Stellen ein kleines Stück wieder, ohne Ida’s Geschichte auch nur annähernd miterlebt zu haben – denn haben wir nicht alle schon einmal den Sinn des Lebens in Frage gestellt?

Nicole
urwort.com

Drüberleben, Kathrin Weßling, Goldmann Verlag, 2012

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