„Dieses Leben gehört Alan Cole“ – Lesen allein ist nicht genug

von | 10.08.2018 | #Kunterbunt, Buchpranger, Kinder- und Jugendbücher, Specials

Der Bücherstadt Kurier ruft und alle, alle folgen. Kein Wunder bei einem Sommerthema, das uns bewegt, umtreibt und nachdenklich macht. „Das Fest der Vielfalt“ wird zelebriert. Der Fokus liegt diesmal auf Beiträgen, die sich mit Diversität, queeren und feministischen Themen beschäftigen. Ich bin dabei! Das war mir sofort klar. Anders, quer, bunt. Themen, die meine Welt in der kleinen literarischen Sternwarte AstroLibrium bestimmen.

Ein Buch möchte ich unter dieser Überschrift gerne vorstellen. Vielleicht sogar ein wenig mehr, weil ich mir oft die Frage stelle, ob es denn ausreicht, was wir hier so anstellen. Ob es in unserer Gesellschaft ausreicht, diese Themen aufzugreifen, der sexuellen Selbstbestimmung in der Literatur mehr Aufmerksamkeit zu verleihen, Diversität lesbar zu machen. Auf Bücher mit queeren Themen hinzuweisen und Diskussionen anzustoßen, Impulse zu geben, den Diskurs am Leben zu halten. Tun wir da genug? Was bewegen wir und wen? Aber fangen wir doch mit dem Jugendbuch an, das schon mit seinem Titel prädestiniert für das Fest der Vielfalt erscheint.

„Dieses Leben gehört: Alan Cole (Bitte nicht knicken)“

Alan Cole ist anders. So anders, dass er selbst kaum Worte dafür findet. Es ist „Ihr-wisst-schon-was“. Also, das sagt er jedenfalls selbst. Und der zwölfjährige Junge weiß ganz genau, in welcher Gefahr er schwebt, denn spätestens seit er sich in den gleichaltrigen Megasportler seiner Schule „Ich-wisst-schon-was“ hat, droht ihm das Schicksal all derer, die „Ihr-wisst-schon-was“ sind.

„Man wird behandelt, als hätte man die Mittelstufen-Version der Beulenpest.“

Besser nicht auffallen. Das ist die Devise. Ansonsten war es das mit dem normalen Leben, weil man eben nicht normal ist. Schwul. Schwer kommt das Wort über Alans Lippen. Verliebt. Das trifft es besser. Da ist ihm doch das Geschlecht dessen egal, in den er sich verguckt hat. Doch andere sehen Andere anders. Ist so! Und wenn diese Anderen zur Familie gehören, dann entwickelt sich das Damokles-Schwert über dem eigenen Kopf zum Fallbeil.

Sein älterer Bruder Nathan wird für Alan zur größten Gefahr. Er hat alles herausgefunden und nun erpresst er Alan mit seinem Wissen. Nathan denkt sich ein höllisches Spiel aus. Sieben Aufgaben, die beide zeitgleich zu lösen haben. Sieben Aufgaben, die gerade für Alan fast nicht zu schaffen sind. Und sollte sein Bruder gewinnen, würde Alan eben geoutet. Alles andere wäre purer Zufall, denn Alan hat noch nie ein Spiel gegen seinen Bruder gewonnen.

Eric Bell schreibt uns seinen Protagonisten Alan Cole so sehr ins Herz, dass wir alles darum geben würden, dass sein Leben nicht geknickt wird. Dieses Jugendbuch stellt die zentralen Themen des Heranwachsens voller Empathie in den Mittelpunkt dieser „Coming-of-Age-Story“. Freundschaft, Orientierungslosigkeit, die erste Liebe, Angst, Selbstfindung, Mobbing, Familienkonflikte und Verzweiflung bis hin zum Gedanken, dass Selbstmord ein Ausweg sein könnte. Unter diesen Rahmenbedingungen beginnt Alan um sein Leben zu kämpfen. Im wahrsten Sinne des Wortes. Dabei wirkt der Roman nicht konstruiert. Die Spirale dreht sich unweigerlich und entwickelt einen gewaltigen Sog, gerade für junge Leser.

Die zentrale Botschaft des Romans wiegt schwer. Sie ist relevant und kann für all jene Zeichen setzen, die das Gefühl haben, nicht normal zu sein, von der Norm abzuweichen, als Außenseiter in einer gar nicht bunten Welt zu gelten und daran zu verzweifeln:

„Nun gut. Es ist mir lieber, dass es schwer ist, ich selbst zu sein, als dass es schwer ist, jemand anderes zu sein.“

Ich kann nur empfehlen, Alan Cole auf seinem Weg zu folgen. Ich kann nur davor warnen, seinen Bruder zu hassen, die Umwelt zu verurteilen oder den Eltern einen Mangel an Empathie vorzuwerfen. Eric Bell spielt mit uns. Er erzeugt genau die Vorurteile, gegen die wir auf der anderen Seite ankämpfen. Jede Medaille hat eine zweite Seite. In diesem Roman wird diese Münze mehrfach umgedreht. Das ist bemerkenswert und brillant erzählt. Hier wird aus dem geborenen Underdog, dessen Gefühle Amok laufen, nicht plötzlich der strahlende Superheld. So leicht macht es sich Eric Bell nicht. So leicht macht er es uns nicht. So leicht ist es nicht. Auch nicht, wenn man dieses Buch gelesen hat. Die Botschaft haben wir wohl vernommen. Aber was ist dann? Alles gut?

Oh Mann, da habe ich ganz schön was getan für eine bunte Gesellschaft. Da habe ich mächtig was bewegt, indem ich dieses Buch aus dem Sauerländer Verlag vorgestellt habe. Da kann ich mich fein zurücklehnen. Abgehakt. Diversität im Herzen, das wahre Leben im Kopf und wieder raus mit mir in eine Welt ohne Ausgrenzung, Mobbing oder Einschränkungen für all jene, die anders sind. Und immer schön abbiegen vor den Fragen, die ich mir selbst kaum stellen möchte. Viel zu unbequem. Hab ja immerhin… Ist doch schon was… Könnte ja auch andere Themen… also was will ich denn mehr?

Nichts habe ich durch das Lesen verändert. Meine eigenen Wertvorstellungen stehen hier nicht auf dem Prüfstand. Basta. Würde ich dieses Buch meinem eigenen Sohn schenken, um ihm im Alter von zwölf Jahren zu signalisieren, dass man gerne anders sein darf? Habe ich nie den Blick in die Ferne schweifen lassen, welches junge Mädchen mir irgendwann als Freundin präsentiert würde? Träume ich nicht von Hochzeit, Stammhaltern und den traditionellen Familienbegriffen? Bin ich nicht tief in mir stockkonservativ und nach außen schön bunt, weil es mich ja nicht betrifft? Habe ich nicht leicht reden, wenn ich meine beiden inzwischen erwachsenen Kinder anschaue und dankbar bin, dass diverse Krüge voller bunter Diversität an mir vorübergegangen sind? Ist die Vielfalt an mir vorbeigerauscht, weil meine Einfalt nie aus der Reserve gelockt wurde?

Oh ja. Ich habe viel gelernt durch diese Bücher. Im Beruf werde ich mir niemals vorwerfen lassen müssen, dass ich Menschen aufgrund ihrer Neigungen, ihrer Herkunft, ihrer Religion oder ihrer Hautfarbe anders behandelt habe. Ich bin gefestigt vorurteilsfrei. Ich bin der Erste, der aufsteht, wenn Unrecht geschieht. Der Erste, der anderen ins Gewissen redet, wenn sie sprachlich das Mobbing gesellschaftsfähig machen. Und hey. Ich stelle Bücher zu Transgender, Homosexualität und allem, was sich querbeet darum rankt, vor. Was soll ich noch mehr tun?

Unbeantwortet bleibt die Frage, weil die Einschläge nie nah genug kamen, um mich auf die Probe zu stellen. Unbeantwortet, weil mein Wertevorrat schön geordnet in den Werteregalen meines Weltbildes gelagert ist. Unbeantwortet, weil ich nie vom Leben herausgefordert wurde, für etwas einzustehen, was ich mir für mich selbst innerlich kaum vorstellen kann. Also. Wie weit bin ich? Reicht es aus, das Bunte zu beschreiben und sich dann hinter dem Geschriebenen zu verbarrikadieren? Ich denke, ich habe noch viel zu lernen, viel an mir zu arbeiten und darf mir nicht vorgaukeln, durch solche Artikel diejenigen zu verändern, die einer bunten Welt nichts abgewinnen können.

Ich muss mich weiter öffnen. Aufrecht bleiben, aufstehen und aufbegehren, wenn Überholtes das neu zu Denkende auf der rechten Spur überholt. Kritisch betrachten, wo Rollenbilder kultiviert werden, die Gesellschaften um hundert Jahre zurückwerfen und vermeiden, mich unkritisch mit Werten auseinanderzusetzen, die dogmatisch statt tolerant sind. Hier darf man den Blick auf die Kirchen und Religionen wenden. Sie sind nicht bunt. Sie sind in Rollenbildern kleinkariert und weitgehend im Mittelalter verhaftet. Ich muss Sprache bekämpfen, die das Anderssein als Schimpfwort kultiviert. „Schwule Sau“ hat im Sprachschatz einer Gesellschaft nichts zu suchen, die auf Wertschätzung und Gleichbehandlung, Würde und Akzeptanz basiert. Unser Grundgesetz ist hier verbindlicher als manche Politiker, die auf seiner Grundlage gewählt wurden.

Nein. Ich wollte nicht abschweifen. Ich wollte nur erklären, dass ich Gefahr laufe, das Leben anderer Menschen zu knicken, weil ich unbedacht und unpräzise im Umgang mit Werten bin. Wenn ich Impulsgeber oder Denkschrittmacher sein will, muss ich mich erst selbst in Gang bringen. Ich muss meine eigenen Denkkrusten lösen. Hier sind Jugendbücher, wie „Dieses Leben gehört: Alan Cole (Bitte nicht knicken)“ herausragende Weichmacher, wenn man sie eben nicht nur als reine Jugendbücher empfindet. Alterslos, zeitlos und grenzenlos ist Vielfalt nur zu erreichen, wenn ich mir selbst Einfalt eingestehe. Vor meiner Tür gilt es noch mächtig zu kehren, bevor das Bunte vielfältig blüht.

Vielleicht dient dieses „Fest der Vielfalt“ auch zur Reflexion. Vielleicht ist dieses Fest mit all seinen Beiträgen Anlass genug, sich selbst zu überdenken. Ich danke dafür, dass ich euch auf diesem Wege Alan Cole näherbringen durfte. Knickt ihn nicht. Ich danke allerdings auch dafür, dass ich mir auf diesem Wege selbst ein wenig nähergekommen bin.

Ihr findet bei AstroLibrium eine Vielzahl von Buchempfehlungen zur Vielfalt. Vielleicht schaut ihr mal vorbei und lernt ein paar besondere Werke kennen. Von einem dänischen Mädchen über die Mitte der Welt bis hin zu George. Zusammen werden wir leuchten darf nicht mehr nur ein Buchtitel bleiben. Was wäre das für ein Fest.

Weitere Informationen und Bücher zur Vielfalt findet ihr bei AstroLibrium.

Stadtbesucher Arndt
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Ein Beitrag zum Special #Kunterbunt. Hier findet ihr alle Beiträge.
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