Die Texterin, der Nerd und die Kreativität

von | 11.06.2019 | #BKmusikalisch, Kreativlabor, Specials

Agnes stand vor dem Spiegel im Flur. Gerade erst war sie nach Hause gekommen, genervt von ihrer Chefin und dem ewig gleichen Alltag. Jetzt musterte sie sich kritisch. Unscheinbar, durchschnittlich – langweilig! Dunkelblonde kurze Haare, eine knabenhafte Figur – damit konnte man natürlich weder punkten noch im Rampenlicht stehen. Kein Wunder, dass sie ein so ereignisloses Dasein führte!

Ein langweiliger Bürojob als Sachbearbeiterin im öffentlichen Dienst, kaum soziale Kontakte in dieser großen Stadt Berlin, in der sie sich nach zwei Jahren immer noch fremd fühlte. Ihr einziger Freund war Mark, ihr Nachbar, ein mit seinem Rechner verbandelter Stubenhocker, dessen Leidenschaft die Musik war. Die Betonung lag also auf Freundschaft, eine Beziehung war das nicht. Eine Art Bruderersatz, ein richtig guter Kumpel, zu dem sie großes Vertrauen entwickelt hatte. Ansonsten gab es gelegentliche Bistro- oder Café-Besuche mit einer ihrer Kolleginnen, darüber hinaus war Agnes ziemlich allein. Ein Mauerblümchen, ohne Glamour oder Ausstrahlung. Andererseits war da diese Antriebslosigkeit. Nach Bayern in die Kleinstadt zurückzugehen, aus der sie stammte, war keine Option …

Einige Augenblicke lang starrte sie ihr Spiegelbild an, dann hatte sie genug von ihrem Selbstmitleid und bewegte sich in Richtung der Küche ihrer Zweizimmerwohnung. Sie schaltete den Wasserkocher an, um sich einen Cappuccino zu machen, und das Radio, um Geräuschkulisse zu haben.

Doch was spielten die da? „Ja mir san mit dem Radl da?!“ Schnell einen anderen Sender! Doch diese Melodie ging ihr erst einmal nicht mehr aus dem Sinn, obwohl sie den Text nicht mochte. Agnes hatte das Lied vor Urzeiten bei ihren Eltern das letzte Mal gehört, jetzt hatte sie die Melodie in den Ohren, obwohl sie inzwischen auf der Skala einen Sender gefunden hatte, der nicht solche Sachen spielte – weder Volksmusik noch irgendwelche Schlager.

Der Klassiksender, den sie durch das Drehen des Rades eingestellt hatte, war mehr nach ihrem Geschmack, da wurde auch nicht soviel dummes Zeug gequatscht, keine Stimmungshits, nichts vom Besten aus den Achtzigern, Neunzigern und von später … Besser etwas Instrumentales, das war auch gut, wenn man etwas lesen wollte, und half bestimmt, dieses Radl-Lied aus dem Kopf zu kriegen …

Agnes griff zu der Zeitschrift, die sie gerade ihrer Handtasche entnommen hatte, um sich noch  mehr abzulenken. Zerstreut blätterte sie, während sie wartete, dass ihr Cappuccino nicht mehr so heiß war. Da stieß sie auf einen Artikel über eine sogenannte Domina, also eine Frau, die den Herren der Schöpfung eine gewisse Befriedigung verschaffte, indem sie sie beherrschte und erniedrigte. Schwarze Stiefel, Lack und Leder, eine Peitsche hatte die also auch, wie auf einem der Schwarzweiß-Fotos zu sehen war … Agnes lächelte. Keine schlechte Inspiration, dachte sie. Sie schrieb Kurzgeschichten, die nicht nur Mark gefielen. Das eine oder andere Mal hatte sie schon eine ihrer Stories untergebracht, im Netz oder einer Anthologie mit geringer Auflage – Geld konnte man damit nicht verdienen.

Der Cappuccino war nun etwas abgekühlt und ließ sich trinken. Doch wieder ertönte in Agnes Kopf diese Melodie vom Radl, und dann verband sich die Melodie mit einem Text. Sie sprang auf und schaltete das Radio aus. Denn jetzt wollte sie diese Melodie nicht mehr loswerden, im Gegenteil! Statt vom Radl zu singen, begann sie leise mit den Worten: „Ich wäre so gerne eure Domina“. Stimmte das denn? Sie dachte an ihre Chefin mit der Neigung zum Herumkommandieren, an ihr eigenes unscheinbares Leben im Schatten. Wäre schon scharf, einen auf Dominatrix zu machen, den Spieß umzudrehen … Weitere Textzeilen kamen ihr in den Sinn, wie automatisch. So griff sie zu Papier und Bleistift. „Eure Herrscherin, eure Königin, ein absoluter Hauptgewinn“, klang das nicht lächerlich? Egal! „Ich wäre so gerne eure Domina, kniet nieder, immer wieder“. Einerseits war ihr das peinlich, anderseits musste sie immer wieder kichern.

Da klingelte ihr Mobiltelefon. Mark! Der kam ihr gerade recht, der einzige, dem sie sich anvertraute, der einzige außer ihrer Mutter und ihrer älteren Schwester in der bayerischen Heimat, dem sie sich zu öffnen pflegte. „Wie sieht’s aus?“, fragte Mark, „Lust, herüberzukommen?“ Sie pflegten öfter zusammen abzuhängen, hörten manchmal zusammen Musik, tranken Tee, brauchten gar nicht viel Konversation.

„Klar!“, antwortete Agnes, denn sie war darauf aus, Marks Musikleidenschaft in Anspruch zu nehmen.

Vielleicht eine Minute später hatte sie bereits seine Wohnungstür erreicht, die nur angelehnt war. In Marks Wohnung sah es malerisch aus, überall Unordnung, aber technisch war er auf dem neuesten Stand. Ein typischer Stubenhocker, nerdig von Natur aus, aber dank seiner technischen Ausstattung mit der halben Welt vernetzt.

Gerne machte er am Computer eigene Musik, ganz persönliche Klangbilder und Beats bildeten den Hintergrund für Satzfetzen und Geräusche, die er irgendwelchen Fernsehmitschnitten entnahm – meistens entstand so irgend etwas Humoristisches. Er war freischaffend, hauptsächlich für eine angesagte Werbeagentur tätig, deren Boss ein Schulfreund von ihm war. Deren Werbefilme hübschte er akustisch mit der entsprechenden Musik auf. Das aber war nur für den Lebensunterhalt, eigentlich lebte er für die Kunst.

Während Agnes mittelgroß und dabei ziemlich mager war, neigte Mark dazu, relativ füllig zu sein. Auch jetzt wieder hatte er einen Teller mit Keksen auf dem Schreibtisch, an dem er wie üblich gesessen hatte, um seiner Kreativität freien Lauf zu lassen.

Er platzierte Agnes auf die freie Hälfte seiner Couch (die andere Seite war mit Zeitschriften belegt) und goss ihr etwas von dem grünen Tee ein, den er in einer Thermoskanne parat hielt. Er setzte sich wieder auf den Drehstuhl vor seinem Schreibtisch mit den zwei Monitoren, unter dem zwei PCs standen.

Zuerst saß Agnes ein paar Augenblicke nur da, während beide Tee tranken. Aber dann musste es einfach aus ihr heraus. „Mir sind da gerade ein paar Zeilen durch den Kopf gegangen in Verbindung mit so einer uralten Sache, die du vielleicht peinlich finden wirst. Aber die alte Melodie passt meiner Meinung nach gut. Ich halte die durchaus für geeignet, ist glaube ich auch schon für Fußballsongs verwendet worden. Hier, das ist der Text, den man zu der Mucke singen könnte“, fügte sie hinzu und reichte ihm die Zeilen, die sie bisher zu Papier gebracht hatte.

Mit zusammengekniffenen Augen hörte Mark sich die Ausführungen seiner Nachbarin zu „Mir san mit dem Radl da“ an, grinste aber, nachdem er den Zettel durchgelesen hatte. „Hört sich so bescheuert an, dass es schon wieder gut ist“, konstatierte er. Bei jedem anderen wäre die empfindliche Agnes beleidigt gewesen, doch Mark durfte das. „Also lautet der Refrain Ich wäre so gerne Eure Domina statt Mir san mit dem Radl da“, stellte er dann fest. „Das lässt sich machen, wobei ich überrascht bin, solche abgründigen Seiten bei dir kennenlernen zu müssen.“ (Agnes errötete ob dieser Worte.) „Nun, ich nehme einfach die alte Melodie, aber das ganze wird aufgepeppt durch einen schnelleren Rhythmus, nicht gerade Techno, eher Eurobeat, eine Art Elektropop vielleicht. Wir brauchen aber eine Stimme, oder willst Du dich selbst versuchen?“ Agnes schüttelte entgeistert den Kopf. „Ich bin kein Bühnentyp!“ „Klar, wir sind beide eher diejenigen, die im Hintergrund wirken.“

Mark lächelte und überraschte seine Freundin dann mit den Worten: „Nun, vielleicht wäre Lucille die Richtige!“ Agnes schaute ihn entgeistert an und riss die Augen auf. „Lucille!? Das ist doch nicht dein Ernst!“ Erst durch Mark war sie in Kontakt mit der Berliner Szene gekommen, wenn auch meistens nur vom Hörensagen. Lucille war sowieso viel zu bekannt, um nicht auch Agnes geläufig zu sein. Die rothaarige Sängerin war eine jener schillernden Erscheinungen, der man allerdings solche Textpassagen wie „Ich wäre so gerne eure Domina“ durchaus zutrauen konnte. Lucille hatte genau den verruchten Touch, den es brauchte, um solche Zeilen nicht nur zu singen, sondern auch zu verkörpern. Lucille – das bedeutete Glamour und Ausstrahlung ohne Ende. Sie war mittlerweile mehr als ein Geheimtipp! „Das ist doch nicht dein Ernst!“, brach es aus Agnes heraus. Doch er lächelte nur, woraufhin Agnes nachdenklich wurde, wusste sie doch, dass Mark durchaus über Verbindungen verfügte, auch wenn er selten sein unaufgeräumtes Domizil verließ. Allein durch die Werbeagentur hatte er genug Kontakt zur Szene. Und so gingen die beiden ans Werk …

Ein halbes Jahr später

Der Vorentscheid zum Song-Wettbewerb war im vollen Gang. Bisher aber nichts Besonderes, Mainstream, Sänger-Songwriter-Sachen, ein paar Hupfdohlen, nicht gerade langweilig, aber es fehlte doch der absolute Knaller. Von Baden-Württemberg bis Meck-Pomm nichts Besonderes. Als letztes Bundesland war die Hauptstadt dran.

Arm, aber sexy hatte ein früherer Bürgermeister der Metropole die Stadt Berlin genannt. Nun, Sex-Appeal hatte zumindest die von dort stammende Lucille, als sie die Bühne betrat, während sich Agnes und Mark im Hintergrund des Saales atemlos anschauten, denn dort vorne wurde Wirklichkeit, was sie eigentlich nur zu träumen gewagt hatten. Die Sängerin trug schwarze Stiefel und ein atemberaubendes grünes Kleid, das hervorragend zu ihren roten Haaren passte. Im Fernsehen kündigte der Moderator an: „Und hier ist Lucille mit Ich wäre so gerne eure Domina. Der Text stammt von Agnes Hinterstockerl, die Komposition von Mark Sabetzky.“ Eine ziemlich altmodische Ansage, der Auftritt und die Musik waren dann aber auf der Höhe der Zeit. Und als schließlich die Stimmenauszählung des sogenannten „Zuschauervotings“ erfolgt war, sahen sich der nerdige Mark und die unscheinbare Agnes erneut entgeistert an, als der Moderator verkündete: „Unsere Stimme für Tel Aviv ist also gefunden: Lucille!“

Stadtbesucher Jürgen Rösch‐Brassovan
Illustration: Satzhüterin Pia 
[tds_note]Ein Beitrag zum Special #BKmusikalisch. Hier findet ihr alle Beiträge.[/tds_note]
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