„Die Schwalbe entflieht den Bösewichtern“

von | 29.05.2017 | Belletristik, Buchpranger

Margaret Atwoods dystopischer Roman „Der Report der Magd“ ist aus dem Jahr 1985. Umso erschreckender, wie aktuell oder gar prophetisch er im Jahr 2017 wirkt. Buchstaplerin Maike findet: unbedingt lesen!

Nordamerika, Ende des 20. Jahrhunderts: Atomare Verseuchung und Krankheiten haben die Menschen größtenteils unfruchtbar gemacht. Giftmüll verseucht das Land. Die USA gibt es nicht mehr. Nach einem Anschlag, der islamistischen Terroristen in die Schuhe geschoben wird, errichten die Putschisten an ihrer Stelle den Staat Gilead.
Es ist ein totalitäres System auf der Grundlage christlichen Fundamentalismus. Die Frauen werden entrechtet. Unbequeme werden zur Zwangsarbeit deportiert. Diejenigen, die noch Kinder gebären können, werden den hochrangigen Kommandanten Gileads als Mägde unterstellt: Leihmütter, die für die erniedrigenden Praktiken auch noch dankbar sein sollen. Eine von ihnen ist Desfred. Noch erinnert sie sich an die Zeit vor Gilead und versucht, sich nicht komplett unterzuordnen. Freies Denken und freies Handeln sind jedoch verboten, aber Desfred erkennt, dass es auch in einem System wie diesem Schlupflöcher und Auswege geben muss …

„Nichts verändert sich auf einen Schlag: In einer nach und nach immer heißer werdenden Badewanne wäre man totgekocht, ehe man es merkt.“

Die Ich-Erzählerin des Buches ist „Desfred“ – als Magd erhält sie den Namen des Kommandanten, dem sie zugeteilt wird. Ihre eigene Identität wird ausgelöscht, ihren richtigen Namen verrät sie nie. So scheint sie exemplarisch für alle Mägde zu stehen, deren Erfahrungen sie teilt. Ihre Erzählung teilt sich in Berichte aus ihrem Alltag als Magd, der von Grausamkeit und Misstrauen geprägt ist, und Rückblenden, in denen sie von ihrem Leben vor dem Umbruch erzählt, von Freiheiten, die ihr selbstverständlich erschienen, und von beunruhigenden gesellschaftlichen Tendenzen, die sie erst im Nachhinein bemerkt. Ihre Gedankenwelt nimmt viel Raum ein: Sie sinniert über Herrschaft und Macht, Geschlecht und Scheinheiligkeit, aber auch über winzige Momente des Widerstands.

Durch die Erzählerin wird deutlich, wie lange sich der Wandel abzeichnet und wie schnell es dann geht, selbst in den Sog zu geraten. Denn egal, wie viele Freiheiten und Rechte sie verliert, ist da immer die Gewissheit, dass es schlimmer sein könnte, wenn sie sich wehrt. Es ist die Angst vor Strafen, die die Menschen kleinhält, aber auch die Hoffnung. So wird das Mantra „Die Hoffnung stirbt zuletzt“ zu einer Gefahr, denn auf diese Weise fügen sich die meisten ihrem neuen Schicksal, auch Desfred: Ihr Mann oder ihre Tochter könnten ja noch da draußen sein und auf sie warten.

Erschreckend aktuell

Es ist beinahe unmöglich, bei der Lektüre von „Der Report der Magd“ keine Parallelen zum Zeitgeschehen zu ziehen. Wer den aktuellen Nachrichten folgt, wird unweigerlich Tendenzen zu religiösem Fundamentalismus und Diktaturen erkennen. Es scheint, als hätte Margaret Atwood geahnt, dass die Zukunft nicht zwangsläufig rosig sein würde.
Letztendlich sind es jedoch auch Themen der 1970er und 80er, die verarbeitet werden und ihren Einfluss bis heute haben: Umweltkatastrophen, Epidemien, militärische Konflikte, Unterdrückung und Bestrebungen nach mehr Frauenrechten, insbesondere reproduktiver Rechte. Das macht den Roman nicht weniger beängstigend, im Gegenteil. Desfreds Geschichte wird zu einer Parabel, scheint es, die den LeserInnen den Spiegel vorhält und den Blick aus dem Roman in die Nachrichten einzufordern scheint.

Dass „Der Report der Magd“ für die heutige Zeit aktuell ist, zeigt sich auch daran, dass momentan eine US-amerikanische Serienproduktion von Hulu ausgestrahlt wird. Angesichts dessen hätte ich mir von Piper eine zeitgenössische Neuübersetzung – womit immer auch ein Stück weit eine Interpretation einhergeht – gewünscht. Denn obwohl die Übersetzung von Helga Pfetsch aus dem Jahr 1987 noch immer gut lesbar ist, merkt man ihr das Alter an.

Insgesamt ist „Der Report der Magd“ ein im wahrsten Sinne des Wortes erschreckendes Buch. Nichts wird geschönt. Die Grausamkeiten, zu denen Menschen unter dem Deckmantel einer Ideologie bereit sind, werden wie eine Warnung ausgestellt. So klingt Atwoods Roman noch lange nach und ist lesenswert – auch gerade wegen seines schwer verdaulichen Inhalts.

Der Report der Magd. Margaret Atwood. Aus dem kanadischen Englisch von Helga Pfetsch. Piper. 2017.

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