Die Schnepfe und ich

von | 22.02.2021 | Belletristik, Buchpranger

Mit „Die Vögel“ ist im Guggolz Verlag der zweite erfolgreiche Roman des Norwegers Tarjei Vesaas erschienen. Es ist ein Roman über Vogelspuren in der Luft und die feinen Schwingungen in uns selbst, zart wie Schnepfenspuren im Sumpf. Worteweberin Annika ist mit der Schnepfe geflogen.

In „Die Vögel“ geht es um die Geschwister Mattis und Hege. Mattis, der von allen nur „der Dussel“ gerufen wird, ist Hege seit dem Tod der Eltern vor vielen Jahren ein Klotz am Bein. Wenn er arbeiten soll, verknoten sich schnell seine Gedanken, so dass er zum Unterhalt der Geschwister nicht beitragen kann. Dafür hat Mattis wache Sinne.

Gesagt in Vogelschrift

Eines nachts beobachtet er, dass die Flugbahn einer Schnepfe über das kleine Häuschen der Geschwister führt. Auf dem sogenannten Schnepfenstrich fliegt der Vogel jede Nacht auf die Balz. Mattis ist verzaubert, verwandelt, doch Hege und die Dorfbewohnerinnen und Dorfbewohner können ihn nicht verstehen.

„Streifen führten durch die Luft über dem Haus – noch von der Schnepfe, die während seines Schlafs hier entlanggeflogen war, heute Nacht und von nun an alle Nächte. Beinahe fühlte zu schlafen sich an wie eine Sünde.“ (S. 87)

Die Schnepfe und Mattis verbindet ein untrennbares Band, glaubt er. Doch dann entwickelt sich der Sommer anders als gedacht für die Geschwister. Mattis rudert nicht nur zwei goldbraune Mädchen, sondern auch den Holzfäller Jørgen über den See. Bald muss er sich entscheiden, wo sein Platz sein soll.

Sprachzauber

Tarjei Vesaas erzählt vom Schicksal des Dussels nach der Begegnung mit der Schnepfe. Er tut das sprachmächtig, vage und doch gewandt. Wir lauschen Mattis wirren, unfertigen Gedanken und können seine Verzauberung fast verstehen: „Die Schnepfe und ich irgendwie. Wir fliegen darüber irgendwie. Und das wird immer so bleiben!“ (S. 225)

In Mattis einfachen Worten und den schnörkellosen Sätzen der Erzählinstanz liegt Poesie, die die Übersetzung von Hinrich Schmidt-Henkel beeindruckend herausarbeitet. Wie die Schnepfenfedern auf dem Buchumschlag ist dieser Roman in seiner natürlichen Einfachheit etwas ganz besonders Kunstvolles. Das Paket machen das kluge Nachwort von Judith Herrmann und die hochwertige Buchgestaltung komplett. „Die Vögel“ ist ein wunderbarer Roman, mit dem man für ein paar Stunden aus der Zeit fallen kann wie Mattis, der über den See rudert, während an ihm die Motorboote vorbeizischen.

Der Autor

Tarjei Vesaas (1897-1970) wuchs in einer Bauernfamilie auf und avancierte zu einem der wichtigsten norwegischen Schriftsteller. Er wurde 1964 mit dem Preis des Nordischen Rates ausgezeichnet und war mehrfach für den Nobelpreis im Gespräch, trotzdem war er vor seiner Wiederentdeckung durch den Guggolz Verlag in Deutschland kaum bekannt. Vesaas‘ Roman „Das Eis-Schloss“ erschien im Vorjahr bei Guggolz.

Die Vögel. Tarjei Vesaas. Aus dem Norwegischen von Hinrich Schmidt-Henkel. Guggolz. 2020.

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