Die Schneeverwehten (Teil 1)

von | 14.02.2021 | Kreativlabor

Sie sind die Zurückgelassenen, die Verbliebenen, die Irdenen. Mit der Sonne schwand die Freude aus ihren Gesichtern. Mit ihren Tränen kam der Regen, der jede Farbe, jedes Rot, jedes Rosa, jeden Braunton aus ihrer Haut wusch und das Antlitz der Erde langsam veränderte.

Und so lange weinten sie. So lange, bis ihnen die Tränen an den Wangen festfroren, bis sich die Tropfen in die Haut gruben, bis die Kälte den Tränenkanal hochgewandert war (manche von ihnen wurden blind, als der Frost ihre Augen erreichte) und die Tränen versiegten, weil die Quellen zugefroren waren.

Allmählich lichteten sich die Schleier vor ihren Augen. Aus ihren Tränen wuchsen Eisblumen, die sich in Nebel auflösten und mit dem gefrierenden Atem mischten, der aus ihren Mündern strömte und sich zu einer pulsierenden Wolke verband.

Und während sie die Wolke betrachteten, wie sie immer wieder anschwoll, wurde ihnen etwas bewusst: Sie waren noch am Leben.

Noch? Oder wieder? War der Einbruch der Kälte nicht auch ein Einbruch in ihr Sein? Bedeutete das Verschwinden der Sonne nicht auch das Ende ihres Lebens? Sie erinnerten sich vage an ein Damals, in dem oft die Rede von einer Stunde Null war. Doch so sehr sie sich auch erinnerten, nichts glich einem Nullpunkt mehr als dieser Moment. Das Fehlen der Sonne löschte alles Vorherige aus, ließ es zum Teil einer fremden Welt werden, zu der sie vielleicht nie gehört hatten, an die sie sich nur erinnerten wie an einen Blick durch ein angelaufenes Fenster.

Die Sonne stand immer für das Leben, für den Lauf der Dinge, das Werden und Vergehen. Nachdem die Sonne verschwunden war, mussten sie sich fragen, was das alles noch zu bedeuten hatte. War ihre Existenz noch Leben oder waren sie nicht bereits in eine Form des Todes eingetreten, weil so etwas wie Leben ohne Sonne gar nicht mehr möglich war?

Panik machte sich in ihren Blicken breit. Ihre Pupillen zitterten. Ihr Atem ging schwerer, die Wolken, die aus ihren Mündern aufstiegen, verdunkelten sich.

Ihre Hände wanderten über ihre Körper, strichen über Haut und versuchten der Wärme nachzuspüren, die langsam entwich. Sie tasteten nach etwas, das sie früher Leben genannt hatten. Ihre Finger krallten sich fest und sie spürten Herzen, beinahe als könnten sie diese jederzeit aus der Brust nehmen. Doch mit jedem schnellen Schlag schwand die Wärme.

Die Zurückgelassenen spürten, wie die Kälte sich immer weiter in ihnen ausbreitete, griffen wild um sich. Sie hatten Angst, etwas zu verlieren, das sie so lange umgeben hatte, das ihr Inneres bestimmte. Sie wollten sie noch ein letztes Mal fühlen, die Wärme. Sie rissen sich die Kleider von den Leibern. Sie saugten sich fest wie Parasiten, rutschten immer weiter zusammen, drückten sich mit jeder Kraft, die ihnen blieb, aneinander, ineinander. Sie wollten nicht irgendeine Wärme, sie wollten lebendige Wärme – sie erinnerte sie an die Sonne. Sie wurden von der Frage gequält: Was würde aus ihnen werden?

Jeder von Ihnen wollte diese Frage vergessen, indem jeder einzelne sich selbst vergaß.

Ihre Haut wurde weicher und ihre Hände kribbelten. Alles wurde still. Kein Wind, kein Tier. Jeder hörte nur seinen Herzschlag und dann den der anderen. Manche wurden langsamer, andere schneller. Es entstand ein Rhythmus so einzigartig und komplex, dass kein Computer ihn berechnen könnte.

Die Schneeverwehten verschmolzen miteinander, wurden zu einem Organismus, zu einer Muschel. Ihre Rücken wurden zur Schale, die im Inneren das Wertvollste beschützte, was ihnen geblieben war. Ihr Atem ging schneller, lauter. Er wurde zur Harmonie in der Symphonie der Zurückgelassenen. Jeder, der das hörte, verging für einen Moment.

Manche sagten später, dass die Haut der Zurückgebliebenen an diesem Tag, in diesem einen Moment blau wurde. Andere erwiderten, dass das, was für die Sonnenkinder früher ‚blau‘ gewesen war, heute als ‚weiß‘ gelte. Wieder andere meinten, dass es nicht die Haut wäre, die sich verändert hatte, sondern die Augen nicht unbeschadet geblieben seien.

Sobald sie in einen tiefen Schlaf gefallen waren, löste sich das innige Band langsam auf. Vielleicht war es der nächste Morgen, vielleicht waren nur einige Minuten vergangen – Zeit hatte ihren Halt verloren. Die Wärme schien nun komplett verschwunden zu sein. Das Erlebnis der Großen Einheit, wie sie die Ereignisse vor dem Schlaf fortan nannten, schrumpften zu einem kleinen Punkt in ihren Herzen. Sie wachten auf, wischten sich den Schnee vom Gesicht und den Tau aus den Augen. Sie blickten sich an und versuchten etwas zu erkennen. Doch alles war ihnen plötzlich fremd.

Das Blau des Himmels und das Weiß der Wolken war verschwunden und komplett als Schnee auf die Erde gefallen. Hin und wieder fegte ein Sturm über die ganze Welt und veränderte ihre Oberfläche. Jedes Mal, wenn eine Böe die Schneeverwehten erreichte, standen einige von ihnen auf, um einen neuen Platz in dieser kalten Welt zu finden.

Die Wege der letzten Menschen trennten sich.

Am Anfang waren es nur einzelne. Sie standen nacheinander auf und jeder ging in eine andere Richtung. Sie liefen einfach los, ins Ungewisse. Manche von ihnen rannten, hetzten durch den Schnee. Unrast hatte sie überfallen. Andere gingen nur langsam und wählten ein Tempo, das sie bis zum Ende halten könnten.

Manche starben auf dem langen Weg: Eine Frau kehrte in eine verfallene Stadt zurück, wo sie unter den einstürzenden Türmen begraben wurde. Ein Mann schloss sich in die größte Bibliothek ein, die er finden konnte. Dort verschlang er zahllose Bücher, Seite für Seite stopfte er sie in sich, bis ein Feuer ausbrach, das schließlich ihn verbrannte.

Andere fanden auf ihrem Weg ein Ziel: Ein Mann wollte über die Welt blicken und bestieg auf seiner Suche die höchsten Gipfel, bis er kurz vor dem Ende der Zeit die Spitze der Welt fand. Eine Frau sehnte sich nach den Sternen. Auch sie bestieg jeden Gipfel, fand dabei jedoch keine Freude. Wie so oft brachte sie der Zufall an ihr Ziel, nachdem sie sich in einen tiefen Graben hatte fallen lassen. Ein Mann konnte den Anblick der Eisblumen, die auf seiner Iris erblüht waren, nicht vergessen. Er umrundete die Welt viele Male auf der Suche nach diesen Blumen. Oft dauerte es ein ganzes Äon, bis er eine weitere Blüte fand. Er pflückte sie sanft und setzte sie auf seine nackte Brust. Keiner weiß, ob es irgendwann keine neuen Blüten oder keinen Platz auf seiner Brust gab – irgendwann legte er sich inmitten einer weiten Schneeebene zur Ruhe, wo die Blumen bis in alle Ewigkeit beieinander blühen. Eine Frau suchte nach Harmonie. Sie zog mit einer langen Eisenstange durch die Wälder und schlug gegen die Bäume. Jeder von ihnen hatte einen eigenen Klang. Irgendwann erreichte sie einen Hain auf einem Hügel, umgeben von einer weiten Schneewüste. Sie schlug gegen jeden Baum und ein Akkord entstand, in den sich endlich auch der Klang ihres Herzens mischte. So musizierte sie mit den Bäumen. Manchmal wehte der Wind ihre Melodien durch die Welt.

Und ein Sturm fegte durch den Schnee.

Fast die Hälfte der Zurückgelassenen kehrte in die Stadt zurück. Schon auf dem Weg gerieten sie in Streit, wie sie in Zukunft leben wollten. Als sie die ersten Häuser erreichten, war ihnen klar, dass sie die Stadt in zweiteilen mussten. In der einen Hälfte lebten die Zurückgelassen ein Leben, wie sie glaubten, es vor dem Schneefall geführt zu haben. Sie nannten sich die Bewahrer. Jeder suchte sich ein Haus oder eine Wohnung. Jeder von ihnen ging einer Arbeit nach, auch wenn sie eigentlich keine Bedeutung mehr hatte. Die wichtigste Aufgabe an diesem Ort war das Hüten der großen Turmuhr. Immer zwei Schneeverwehte mussten darauf achten, dass sie nicht stehen blieb. Nur so konnten die Bewahrer Tag und Nacht unterscheiden und ihren Leben eine Ordnung geben.

In der anderen Hälfte lebten die Hedonisten. Für sie gab es kein Ziel mehr. Für sie war der Tod schon da und ihr Leben im Schnee nur ein Aufschub. Und dieses Leben wollten sie genießen: Sie schliefen, wann sie wollten, aßen in rauen Mengen, was immer sie finden konnten. Sie tanzten, bis sie vor Erschöpfung umfielen. Wenn jemand von ihnen starb, trauerten sie nicht, sondern jubelten umso lauter. Einmal ergriff doch jemanden die Furcht vor dem Tod. Als die anderen sein Schaudern spürten, sammelten sie sich um ihren Freund, nahmen ihn in die Mitte und begannen wieder zu singen und tanzen, bis auch die letzten Hedonisten sich vor Erschöpfung und Hunger in die Straßen legten und nicht mehr aufstanden.

Und ein Sturm fegte durch den Schnee.

Es fanden sich immer neue Gruppen unter den Zurückgelassenen, die fortgingen. Einige glaubten, dass die große strahlende Gottheit sie verlassen hatte, weil sie die Fehler der Menschen nicht mehr mitansehen konnte. Die Gläubigen besuchten alte Ruinen, wo sie herausfinden wollten, wie sie richtig leben sollten und wie sie das Licht wieder in ihre Welt rufen könnten. Für die Realisten hatte die Moral versagt. Licht und Hoffnung hatten sie verlassen; es ging ihnen nur noch ums Überleben. Sie gruben nach erfrorenen Tieren, die sie über den Flammen auftauten und aßen. Manchmal machten sie auch Jagd auf andere Schneeverwehte, die sie für schwächer hielten, für zu schwach für diese neue Welt. Andere waren sich sicher, dass auch in dieser Welt Gesetze von Ursache und Wirkung existierten. Wie die Gläubigen reisten sie zu den Tempeln des Wissens. In kleinen Gruppen strömten sie in die Welt und sammelten alle Schriften, die sie finden konnten. Wenn sie den Wind auf der Haut spürten, kehrten sie um und trafen sich an einem Ort, wo sie ihr Wissen teilten, immer hoffend ihre Welt irgendwann komplett verstehen zu können.

Und ein Sturm fegte durch den Schnee.

Die letzten saßen noch lange da, während der Wind die Schneedecke um sie herum immer höher wachsen ließ. Sie saßen da, den Blick mit glasigen Augen nach vorne gerichtet, in das Nichts, wo sie ihre Zukunft vermuteten. Die meiste Zeit schwiegen sie, ließen jeden Laut vom Weiß verschlucken. Nur hin und wieder gaben sie einen Ton von sich, der zwischen einem leisen Summen und einem lauten Seufzen lag. Es klang, als würde jemand auf einem Klavier einen Akkord anschlagen und ausklingen lassen. Manchmal gesellte sich der Wind zu ihnen, pfiff ihnen zu und türmte ein Gebirge aus mikroskopischen Eiskristallen neben ihnen auf.

Dann regten sich die Sitzenden wieder. Ein Zittern ging durch ihre Reihen, als würden sie alle an demselben Faden hängen, an dem eine unbekannte Macht gezogen hatte. Sie standen langsam auf und gingen zu den Schneehaufen, die sich neben ihnen, bis zum Himmel, aufzutürmen schienen. Sie gruben sich Stück für Stück in die angewehten Berge hinein. Der Schnee in ihren Händen färbte sich rot, während sich die Schneeverwehten die Haut an dem eisigen Massiv aufrissen. Doch sie gruben immer weiter, bis sie schließlich im Inneren der Schneetürme verschwanden. In der Stille waren die kratzenden Geräusche noch lange zu hören. Bald waren die Tunnel komplett von Neuschnee verschlossen.

Eine Stille breitete sich aus, wie sie nur über Schnee liegen kann.

Erneut hob ein starker Wind an. Wie um die Stille zu vertreiben, rauschte und fauchte er zwischen den Schneebergen hindurch, bis sie erzitterten und wie eine große Wolke fortgeweht wurden. Von den Zurückgelassen war nichts mehr zu sehen. Die Sturmböe ließ nur eine glitzernde Ebene zurück.

Text: Thilo Sauer
Illustration: Seitenkünstler Aaron

 

Thilo Sauer

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